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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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sung Oesterreich ein überwiegender Antheil zufallen, auf dessen Behauptung
es sich vorbereiten soll. Unter der orientalischen Frage aber kann man sich
nach Belieben das Schicksal ganz Asiens, sowie der europäischen und afrika¬
nischen Ostgestade des Mittelmeeres denken. Für Oesterreich handelt es sich
bei der sogenannten orientalischen Frage in Wahrheit nur um die Balkan-
Halbinsel. Und dieses nur ist völlig genug. Als asiatischer Staat kann die
Türkei noch lange fortbestehen, aber die Frage ihres europäischen Bestandes
wird täglich brennender, wie sehr man sich auch Mühe zu geben scheine, gegen
das Herannahen der Katastrophe allseitig die Augen zu verschließen. Aus
den scheinbar geschlossenen Augen lauscht aber die Aufmerksamkeit gespannter
als je. Die Unordnung und die Uneinigkeit in der türkischen Verwaltung
nehmen unaufhaltsam zu. Der Tag wird kommen, wo es unmöglich wird,
daß eine christliche Macht nochmals ihr Veto einlegt, wenn die Vasallen der
Pforte sich unabhängig erklären, wenn Bulgarien die Emancipation begehrt,
wenn Serbien die Hand nach seinen Rassenbrüdern ausstreckt, die noch un¬
mittelbare Unterthanen der Pforte sind, wenn Griechenland das Gleiche thut.
Für Oesterreich liegt die Aufgabe dieses Momentes darin, daß es auf die
neue Staatenbildung der Balkanhalbinsel einen freundschaftlichen und völker¬
rechtlich anerkannten Einfluß gewinne. Denn daß diese Neubildung in feind¬
lichen Gegensatz zu Oesterreich trete, kann das Letztere nicht ertragen. Denn
es birgt die Rassenverwandten der Völkerschaften in feinen Schoß, deren poli¬
tische Emancipation auf der Balkanhalbinsel sich vorbereitet. Oesterreich kann
auch die Adern seines Handels, die sich nach dem Südosten öffnen, kann seine
Hauptader, die Donau, sich nicht durch eine feindliche oder unter feindlichen
Einfluß gestellte Welt verschließen lassen.

Die Lösung der Aufgabe nun, welche der österreichischen Monarchie hier
zufällt, steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der inneren Verfassung
der Monarchie. Die Monarchie ist jetzt bis zu einem gewissen Grade dua¬
listisch constituirt. Es entstehen die Fragen: wer soll die Interessen der Mon¬
archie aus der Balkanhalbinsel in die Hand nehmen? Gehört diese Aufgabe
nur der ungarischen Reichshälfte? Dann wäre auch die vollständige Eman¬
cipation dieser Reichshälfte, welche von zwei ungarischen Parteien im verschie¬
denen Sinne erstrebt wird, gegeben. Kann Ungarn aber sein eigenes Lebens¬
interesse auf der Balkanhalbinsel nicht allein vertheidigen, so muß auch das
Band der Gemeinschaft straffer angezogen, die Kraft der Centralregierung ver¬
stärkt werden. Denn davon ist nicht die Rede, daß die sogenannte westliche
Reichshälfte die Interessen Ungarns als Heerfolge leistender Bundesgenosse
ausfechte. Wo die entscheidende Kraft liegt, da liegt auch die Führung. So
haben wir ein augenfälliges Beispiel der Einheit innerer und äußerer Politik.
Die Aussichten der separatistischen Parteien Ungarns hängen von der Tang-


sung Oesterreich ein überwiegender Antheil zufallen, auf dessen Behauptung
es sich vorbereiten soll. Unter der orientalischen Frage aber kann man sich
nach Belieben das Schicksal ganz Asiens, sowie der europäischen und afrika¬
nischen Ostgestade des Mittelmeeres denken. Für Oesterreich handelt es sich
bei der sogenannten orientalischen Frage in Wahrheit nur um die Balkan-
Halbinsel. Und dieses nur ist völlig genug. Als asiatischer Staat kann die
Türkei noch lange fortbestehen, aber die Frage ihres europäischen Bestandes
wird täglich brennender, wie sehr man sich auch Mühe zu geben scheine, gegen
das Herannahen der Katastrophe allseitig die Augen zu verschließen. Aus
den scheinbar geschlossenen Augen lauscht aber die Aufmerksamkeit gespannter
als je. Die Unordnung und die Uneinigkeit in der türkischen Verwaltung
nehmen unaufhaltsam zu. Der Tag wird kommen, wo es unmöglich wird,
daß eine christliche Macht nochmals ihr Veto einlegt, wenn die Vasallen der
Pforte sich unabhängig erklären, wenn Bulgarien die Emancipation begehrt,
wenn Serbien die Hand nach seinen Rassenbrüdern ausstreckt, die noch un¬
mittelbare Unterthanen der Pforte sind, wenn Griechenland das Gleiche thut.
Für Oesterreich liegt die Aufgabe dieses Momentes darin, daß es auf die
neue Staatenbildung der Balkanhalbinsel einen freundschaftlichen und völker¬
rechtlich anerkannten Einfluß gewinne. Denn daß diese Neubildung in feind¬
lichen Gegensatz zu Oesterreich trete, kann das Letztere nicht ertragen. Denn
es birgt die Rassenverwandten der Völkerschaften in feinen Schoß, deren poli¬
tische Emancipation auf der Balkanhalbinsel sich vorbereitet. Oesterreich kann
auch die Adern seines Handels, die sich nach dem Südosten öffnen, kann seine
Hauptader, die Donau, sich nicht durch eine feindliche oder unter feindlichen
Einfluß gestellte Welt verschließen lassen.

Die Lösung der Aufgabe nun, welche der österreichischen Monarchie hier
zufällt, steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der inneren Verfassung
der Monarchie. Die Monarchie ist jetzt bis zu einem gewissen Grade dua¬
listisch constituirt. Es entstehen die Fragen: wer soll die Interessen der Mon¬
archie aus der Balkanhalbinsel in die Hand nehmen? Gehört diese Aufgabe
nur der ungarischen Reichshälfte? Dann wäre auch die vollständige Eman¬
cipation dieser Reichshälfte, welche von zwei ungarischen Parteien im verschie¬
denen Sinne erstrebt wird, gegeben. Kann Ungarn aber sein eigenes Lebens¬
interesse auf der Balkanhalbinsel nicht allein vertheidigen, so muß auch das
Band der Gemeinschaft straffer angezogen, die Kraft der Centralregierung ver¬
stärkt werden. Denn davon ist nicht die Rede, daß die sogenannte westliche
Reichshälfte die Interessen Ungarns als Heerfolge leistender Bundesgenosse
ausfechte. Wo die entscheidende Kraft liegt, da liegt auch die Führung. So
haben wir ein augenfälliges Beispiel der Einheit innerer und äußerer Politik.
Die Aussichten der separatistischen Parteien Ungarns hängen von der Tang-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/517>, abgerufen am 01.10.2024.