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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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wird genügen, wenn die von solchem Wahn unmittelbar Bedrohten
sich allein vertheidigen, es wird nicht nöthig sein, daß die Gesammtbürg-
schaft, welche in der Harmonie der befriedigten Interessen liegt, sich
actuell bethätigt. Aber die moralische Wirkung jener Harmonie, welche in
der Monarchenbegegnung zu Berlin ihren symbolischen Ausdruck gefunden,
ist von hoher Bedeutung und von unverkennbarem, practischem Werth. Es
ist zweierlei, ob ein Friedensstörer im Fall seines Sieges der gerechten Scheu,
im Fall seiner Niederlage der gerechten Strafe sicher ist, oder ob in dem
einen dieser Fälle ihn Beifall, im andern ihn Mitleid erwartet.

Nach menschlichem Ermessen ist die Monarchenzusammenkunft in Berlin
die Einweihung einer Friedensepoche gewesen, deren Character selbst durch
den Störungsversuch eines kranken Volkes bei der schnell erfolgreichen Ab¬
wehr gerechter und vom allgemeinen Beifall unterstützter Gewalt nicht ge¬
ändert werden dürfte. Es scheint darum erlaubt und sogar an der Zeit, das
Auge den Aufgaben des Friedens zuzuwenden. Wenn die Wechselwirkung
der Nationen im Kriege am augenfälligsten wird, so bereitet sie sich doch
nur im Frieden vor. Es kann deshalb lehrreich sein, mit den Friedensauf¬
gaben der beginnenden Epoche die Völker in ihrer Wechselwirkung und nicht
blos in ihrer nach innen gewandten Thätigkeit ins Auge zu fassen. Wir
wollen einen Ueberblick der europäischen Lage unter dem doppelten Gesichts¬
punkt der inneren Arbeit der einzelnen Völker und der auswärtigen Aufgaben,
für welche dieselben sich vorbereiten, versuchen.

Wir beginnen mit der österreichisch-ungarischen Monarchie, mit jenem
Staatswesen, an das wir durch ein staatsrechtliches Band diesseits wie jen¬
seits zum Unheil gefesselt waren. Das künstliche Band ist zerschnitten und
sogleich macht sich die tiefe Verwandtschaft der beiderseitigen Interessen gel¬
tend, die nur durch den Versuch einer gewaltsamen Unterordnung in Ent¬
fremdung verkehrt werden konnte. Verwandte Interessen haben die Aufgabe
sich in Freiheit zu unterstützen, nicht aber in unnatürlicher Verkoppelung sich
gegenseitig zu verkümmern und zu verfälschen.

Oesterreich-Ungarn hat seine langjährige Machtstellung in Deutschland
wie in Italien aufgegeben. Der äußeren Nöthigung ist die freiwillige und
aufrichtige Resignation gefolgt. So nur vermag die öffentliche Meinung der
ganzen Welt die Kaiserreise nach Berlin zu deuten, an dessen Hofe der ita¬
lienische Thronerbe wenige Monate vorher die freundschaftlichste Aufnahme
gefunden hatte. Seit vielen Jahren schon hatte wohlwollender Rath die
österreichische Regierung für den unvermeidlichen Verzicht auf die Doppelherr¬
schaft in Deutschland und Italien, auf den Beruf verwiesen, die Cultur nach
dem Osten zu tragen, wie man es ausdrückte. In gleich unbestimmter Rede¬
weise wird noch heute von der orientalischen Frage gesprochen, an deren Lo-


wird genügen, wenn die von solchem Wahn unmittelbar Bedrohten
sich allein vertheidigen, es wird nicht nöthig sein, daß die Gesammtbürg-
schaft, welche in der Harmonie der befriedigten Interessen liegt, sich
actuell bethätigt. Aber die moralische Wirkung jener Harmonie, welche in
der Monarchenbegegnung zu Berlin ihren symbolischen Ausdruck gefunden,
ist von hoher Bedeutung und von unverkennbarem, practischem Werth. Es
ist zweierlei, ob ein Friedensstörer im Fall seines Sieges der gerechten Scheu,
im Fall seiner Niederlage der gerechten Strafe sicher ist, oder ob in dem
einen dieser Fälle ihn Beifall, im andern ihn Mitleid erwartet.

Nach menschlichem Ermessen ist die Monarchenzusammenkunft in Berlin
die Einweihung einer Friedensepoche gewesen, deren Character selbst durch
den Störungsversuch eines kranken Volkes bei der schnell erfolgreichen Ab¬
wehr gerechter und vom allgemeinen Beifall unterstützter Gewalt nicht ge¬
ändert werden dürfte. Es scheint darum erlaubt und sogar an der Zeit, das
Auge den Aufgaben des Friedens zuzuwenden. Wenn die Wechselwirkung
der Nationen im Kriege am augenfälligsten wird, so bereitet sie sich doch
nur im Frieden vor. Es kann deshalb lehrreich sein, mit den Friedensauf¬
gaben der beginnenden Epoche die Völker in ihrer Wechselwirkung und nicht
blos in ihrer nach innen gewandten Thätigkeit ins Auge zu fassen. Wir
wollen einen Ueberblick der europäischen Lage unter dem doppelten Gesichts¬
punkt der inneren Arbeit der einzelnen Völker und der auswärtigen Aufgaben,
für welche dieselben sich vorbereiten, versuchen.

Wir beginnen mit der österreichisch-ungarischen Monarchie, mit jenem
Staatswesen, an das wir durch ein staatsrechtliches Band diesseits wie jen¬
seits zum Unheil gefesselt waren. Das künstliche Band ist zerschnitten und
sogleich macht sich die tiefe Verwandtschaft der beiderseitigen Interessen gel¬
tend, die nur durch den Versuch einer gewaltsamen Unterordnung in Ent¬
fremdung verkehrt werden konnte. Verwandte Interessen haben die Aufgabe
sich in Freiheit zu unterstützen, nicht aber in unnatürlicher Verkoppelung sich
gegenseitig zu verkümmern und zu verfälschen.

Oesterreich-Ungarn hat seine langjährige Machtstellung in Deutschland
wie in Italien aufgegeben. Der äußeren Nöthigung ist die freiwillige und
aufrichtige Resignation gefolgt. So nur vermag die öffentliche Meinung der
ganzen Welt die Kaiserreise nach Berlin zu deuten, an dessen Hofe der ita¬
lienische Thronerbe wenige Monate vorher die freundschaftlichste Aufnahme
gefunden hatte. Seit vielen Jahren schon hatte wohlwollender Rath die
österreichische Regierung für den unvermeidlichen Verzicht auf die Doppelherr¬
schaft in Deutschland und Italien, auf den Beruf verwiesen, die Cultur nach
dem Osten zu tragen, wie man es ausdrückte. In gleich unbestimmter Rede¬
weise wird noch heute von der orientalischen Frage gesprochen, an deren Lo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/516>, abgerufen am 22.07.2024.