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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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welches Fürst Bismarck an die Abgesandten der Gemeindebehörden richtete,
welche ihm am 9. September den Ehrenbürgerbrief der Stadt Berlin über¬
brachten, ist das wahre Wort der Situation, um in der Art unserer franzö¬
sischen Nachbarn zu sprechen. Daß die Weltgeschichte eine Zeit lang stehen
zu bleiben schiene, ist das Bedürfniß, das ganz Europa beherrscht und das
vielleicht nur in einem einzigen Lande Europas nicht gefühlt wird, obgleich
man die Ruhe der Weltgeschichte nirgends nöthiger hätte als dort. Die
Weltgeschichte, noch mehr als die Natur, hegt jenen tiorror vacui, den die
Physik der anbrechenden Neuzeit geistreich erdichtete. Darum hat Fürst Bis¬
marck, der dies am Besten weiß, auch nur von einem Schein des Stillstandes
gesprochen. Der große Staatsmann gönnt und wünscht der Welt Erholung
von den großen sichtbaren Veränderungen und ihren unmittelbaren Vorar¬
beiten. Die europäische Welt soll ihre neue Gestalt erst erfüllen, weil dieselbe
eine sehr gesunde und naturgemäße Entfaltung der lebendigsten Kräfte gestattet,
bevor Europa an neue Veränderungen mit ihren Erschütterungen denkt.

Solche Veränderungen der äußeren Gestalt des Völkerlebens sind der
Endabschluß langer und langsamer Arbeit. Seit dem Jahre 1815 hat es in
Deutschland und Italien gearbeitet gegen die naturwidrige Zerstückung zweier
lebensreicher Nationen, die für die Cultur der Menschheit die größten Beiträge
in der Vergangenheit geliefert und die Gegenwart mit neuen Leistungen ^zu
fördern den innersten Beruf zeigten. Mit dem Jahre 1859 beginnt die stille
Arbeit große Umrisse anzunehmen und > das Geräusch der Schlußkatastrophe
vernehmen zu lassen. Nach zwölf Jahren ungefähr sind die beiden Völker sich
selbst und dem Wechselproceß der internationalen Culturarbeit zurückgegeben.
Die inneren Hindernisse sind zerstört, die feindlichen äußeren Mächte in ihre
eigenen Grenzen zurückgeschleudert. Was darf nun folgen, als das Schauspiel
der ruhigen Entfaltung und des natürlichen Gedeihens? Die Herrscher, die
sich eben in der Hauptstadt des neuen Deutschlands begegneten, haben Nichts
Anderes gewollt, als die Natürlichkeit des neuen Zustandes bezeugen, dadurch,
daß sie, die Herrscher der in die verschiedensten Interessen verflochten Staaten
bekundeten, daß der neu gegründete Zustand keinen Theil dieser Interessen in
einen feindlichen Gegensatz stellt. Die heutige Lage Europas ist friedlich, weil
sie für die überwiegende Summe aller europäischen Lebensinteressen, man kann
weiter gehen und sagen: für die Gesammtheit aller wahren Lebensinteressen
Europas befriedigend ist. Darum bedarf diese Lage auch keiner Tractate zu
ihrem Schutz, wie einst die heilige Allianz sich die Aufrechthaltung der auf dem
wiener Congreß geschaffenen Lage zum Ziel setzte. Der heutigen Lage ist ihre
Dauer gesichert durch die natürliche Solidarität der in ihr versöhnten Interessen.
Nur vermeintliche Interessen, kein wahres Volksbedürfniß, sondern Volksver¬
irrung und verirrte Leidenschaften können sich gegen diese Lage auflehnen. Es


welches Fürst Bismarck an die Abgesandten der Gemeindebehörden richtete,
welche ihm am 9. September den Ehrenbürgerbrief der Stadt Berlin über¬
brachten, ist das wahre Wort der Situation, um in der Art unserer franzö¬
sischen Nachbarn zu sprechen. Daß die Weltgeschichte eine Zeit lang stehen
zu bleiben schiene, ist das Bedürfniß, das ganz Europa beherrscht und das
vielleicht nur in einem einzigen Lande Europas nicht gefühlt wird, obgleich
man die Ruhe der Weltgeschichte nirgends nöthiger hätte als dort. Die
Weltgeschichte, noch mehr als die Natur, hegt jenen tiorror vacui, den die
Physik der anbrechenden Neuzeit geistreich erdichtete. Darum hat Fürst Bis¬
marck, der dies am Besten weiß, auch nur von einem Schein des Stillstandes
gesprochen. Der große Staatsmann gönnt und wünscht der Welt Erholung
von den großen sichtbaren Veränderungen und ihren unmittelbaren Vorar¬
beiten. Die europäische Welt soll ihre neue Gestalt erst erfüllen, weil dieselbe
eine sehr gesunde und naturgemäße Entfaltung der lebendigsten Kräfte gestattet,
bevor Europa an neue Veränderungen mit ihren Erschütterungen denkt.

Solche Veränderungen der äußeren Gestalt des Völkerlebens sind der
Endabschluß langer und langsamer Arbeit. Seit dem Jahre 1815 hat es in
Deutschland und Italien gearbeitet gegen die naturwidrige Zerstückung zweier
lebensreicher Nationen, die für die Cultur der Menschheit die größten Beiträge
in der Vergangenheit geliefert und die Gegenwart mit neuen Leistungen ^zu
fördern den innersten Beruf zeigten. Mit dem Jahre 1859 beginnt die stille
Arbeit große Umrisse anzunehmen und > das Geräusch der Schlußkatastrophe
vernehmen zu lassen. Nach zwölf Jahren ungefähr sind die beiden Völker sich
selbst und dem Wechselproceß der internationalen Culturarbeit zurückgegeben.
Die inneren Hindernisse sind zerstört, die feindlichen äußeren Mächte in ihre
eigenen Grenzen zurückgeschleudert. Was darf nun folgen, als das Schauspiel
der ruhigen Entfaltung und des natürlichen Gedeihens? Die Herrscher, die
sich eben in der Hauptstadt des neuen Deutschlands begegneten, haben Nichts
Anderes gewollt, als die Natürlichkeit des neuen Zustandes bezeugen, dadurch,
daß sie, die Herrscher der in die verschiedensten Interessen verflochten Staaten
bekundeten, daß der neu gegründete Zustand keinen Theil dieser Interessen in
einen feindlichen Gegensatz stellt. Die heutige Lage Europas ist friedlich, weil
sie für die überwiegende Summe aller europäischen Lebensinteressen, man kann
weiter gehen und sagen: für die Gesammtheit aller wahren Lebensinteressen
Europas befriedigend ist. Darum bedarf diese Lage auch keiner Tractate zu
ihrem Schutz, wie einst die heilige Allianz sich die Aufrechthaltung der auf dem
wiener Congreß geschaffenen Lage zum Ziel setzte. Der heutigen Lage ist ihre
Dauer gesichert durch die natürliche Solidarität der in ihr versöhnten Interessen.
Nur vermeintliche Interessen, kein wahres Volksbedürfniß, sondern Volksver¬
irrung und verirrte Leidenschaften können sich gegen diese Lage auflehnen. Es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/515>, abgerufen am 22.07.2024.