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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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gerwehr", die Nationalgarde, war ähnlicher Stimmung. Selbst nach beendig¬
tem Gefecht liefen die mit den Waffen in der Hand Gefangenen Gefahr, in
Masse niedergemetzelt zu werden, wie denn General Lebreton versicherte, ganze
Schaaren derselben nur durch das der Nationalgarde gegebene Versprechen
strenger und rascher Justiz gerettet zu haben. So blutig war der Kampf,
daß die Stelle des Befehlshabers des Centrums der Armee dreimal leer
wurde. Sechs Generale fielen, sechs andere wurden blesfirt; ein Beweis, wie
sehr sie sich exponiren mußten, um die Truppen vorzuführen. Auf zehntausend
schätzte man die Zahl der in dem dreitägigen Kampfe Gefallenen und Ver¬
wundeten. Von den 40 bis S0.000 Empörern, welche auf den Barrikaden
gestanden, wurden während des Kampfes und zumal nach demselben durch
förmliche Treibjagden 12 bis 14,000 gefangen genommen, in die Kasematten
der Pariser Festungswerke gesperrt und von dort aus in die überseeischen
Colonien geschafft, da ein detaillirtes gerichtliches Verfahren gegen sie nicht
möglich schien, eine Begnadigung aber wahrscheinlich den offenen Aufstand der
Nationalgarde zur unmittelbaren Folge gehabt haben würde.

Für die Armee hatte die Junischlacht die Folge, daß sie sich selbst
wieder fand. Leider aber muß man.eingestehen, daß ihre innere und äußere
Sammlung weniger der sittlichen Erhebung und der Kräftigung soldatischen
Pflichtgefühls, als den Eingebungen finsteren Hasses und gewaltthätiger Rach¬
sucht zuzuschreiben ist. Diesen Stimmungen hatte die republikanische Regierung
es auch zu verdanken, daß die Truppen zu dieser Zeit noch völlig unempfind¬
lich blieben für die Lockungen des im Juni mit dem Socialismus Hand in
Hand gehenden Bonapartismus. Erst nach gesättigter Rache und bei ge¬
stärkten Selbstgefühl war die Armee bereit, dem Rattenfängerliede der napo-
leoniden das Ohr zu öffnen.

Nachdem er erklärt, daß er diesmal die Wahl annehmen würde, ward
Louis Napoleon aufs Neue in die Nationalversammlung gewählt und
trat in dieselbe ein. Diese war mit der Berathung des Staatsgrundgesetzes
der Republik beschäftigt und der Verfassungsausschuß stellte den Antrag,
die Stellvertretung im Heere aufzuheben, d. h. also die allgemeine
Wehrpflicht einzuführen. In einer Republik, welche die allgemeine "Gleich¬
heit" auf ihre Fahne geschrieben, hätte, so sollte man glauben, die allgemeine
Wehrpflicht sich ganz von selbst verstanden; ein Widerstand gegen den Vor¬
schlag der Commission hätte unmöglich scheinen sollen. Dennoch war die Op¬
position überaus groß und ihr Wortführer war Thiers, welcher wahrhaft
leidenschaftlich für die Stellvertretung eintrat, und in der That wurde der
Antrag mit 663 gegen 140 Stimmen verworfen. Louis Napoleon
nahm nicht das Wort in dieser Sache, daß er aber mit Thiers übereinstimmte,
beweist der die Armee betreffende Passus seines Wahlmanifestes, welcher


Grenzboten III. 1872- 65

gerwehr", die Nationalgarde, war ähnlicher Stimmung. Selbst nach beendig¬
tem Gefecht liefen die mit den Waffen in der Hand Gefangenen Gefahr, in
Masse niedergemetzelt zu werden, wie denn General Lebreton versicherte, ganze
Schaaren derselben nur durch das der Nationalgarde gegebene Versprechen
strenger und rascher Justiz gerettet zu haben. So blutig war der Kampf,
daß die Stelle des Befehlshabers des Centrums der Armee dreimal leer
wurde. Sechs Generale fielen, sechs andere wurden blesfirt; ein Beweis, wie
sehr sie sich exponiren mußten, um die Truppen vorzuführen. Auf zehntausend
schätzte man die Zahl der in dem dreitägigen Kampfe Gefallenen und Ver¬
wundeten. Von den 40 bis S0.000 Empörern, welche auf den Barrikaden
gestanden, wurden während des Kampfes und zumal nach demselben durch
förmliche Treibjagden 12 bis 14,000 gefangen genommen, in die Kasematten
der Pariser Festungswerke gesperrt und von dort aus in die überseeischen
Colonien geschafft, da ein detaillirtes gerichtliches Verfahren gegen sie nicht
möglich schien, eine Begnadigung aber wahrscheinlich den offenen Aufstand der
Nationalgarde zur unmittelbaren Folge gehabt haben würde.

Für die Armee hatte die Junischlacht die Folge, daß sie sich selbst
wieder fand. Leider aber muß man.eingestehen, daß ihre innere und äußere
Sammlung weniger der sittlichen Erhebung und der Kräftigung soldatischen
Pflichtgefühls, als den Eingebungen finsteren Hasses und gewaltthätiger Rach¬
sucht zuzuschreiben ist. Diesen Stimmungen hatte die republikanische Regierung
es auch zu verdanken, daß die Truppen zu dieser Zeit noch völlig unempfind¬
lich blieben für die Lockungen des im Juni mit dem Socialismus Hand in
Hand gehenden Bonapartismus. Erst nach gesättigter Rache und bei ge¬
stärkten Selbstgefühl war die Armee bereit, dem Rattenfängerliede der napo-
leoniden das Ohr zu öffnen.

Nachdem er erklärt, daß er diesmal die Wahl annehmen würde, ward
Louis Napoleon aufs Neue in die Nationalversammlung gewählt und
trat in dieselbe ein. Diese war mit der Berathung des Staatsgrundgesetzes
der Republik beschäftigt und der Verfassungsausschuß stellte den Antrag,
die Stellvertretung im Heere aufzuheben, d. h. also die allgemeine
Wehrpflicht einzuführen. In einer Republik, welche die allgemeine „Gleich¬
heit" auf ihre Fahne geschrieben, hätte, so sollte man glauben, die allgemeine
Wehrpflicht sich ganz von selbst verstanden; ein Widerstand gegen den Vor¬
schlag der Commission hätte unmöglich scheinen sollen. Dennoch war die Op¬
position überaus groß und ihr Wortführer war Thiers, welcher wahrhaft
leidenschaftlich für die Stellvertretung eintrat, und in der That wurde der
Antrag mit 663 gegen 140 Stimmen verworfen. Louis Napoleon
nahm nicht das Wort in dieser Sache, daß er aber mit Thiers übereinstimmte,
beweist der die Armee betreffende Passus seines Wahlmanifestes, welcher


Grenzboten III. 1872- 65
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[0513] gerwehr", die Nationalgarde, war ähnlicher Stimmung. Selbst nach beendig¬ tem Gefecht liefen die mit den Waffen in der Hand Gefangenen Gefahr, in Masse niedergemetzelt zu werden, wie denn General Lebreton versicherte, ganze Schaaren derselben nur durch das der Nationalgarde gegebene Versprechen strenger und rascher Justiz gerettet zu haben. So blutig war der Kampf, daß die Stelle des Befehlshabers des Centrums der Armee dreimal leer wurde. Sechs Generale fielen, sechs andere wurden blesfirt; ein Beweis, wie sehr sie sich exponiren mußten, um die Truppen vorzuführen. Auf zehntausend schätzte man die Zahl der in dem dreitägigen Kampfe Gefallenen und Ver¬ wundeten. Von den 40 bis S0.000 Empörern, welche auf den Barrikaden gestanden, wurden während des Kampfes und zumal nach demselben durch förmliche Treibjagden 12 bis 14,000 gefangen genommen, in die Kasematten der Pariser Festungswerke gesperrt und von dort aus in die überseeischen Colonien geschafft, da ein detaillirtes gerichtliches Verfahren gegen sie nicht möglich schien, eine Begnadigung aber wahrscheinlich den offenen Aufstand der Nationalgarde zur unmittelbaren Folge gehabt haben würde. Für die Armee hatte die Junischlacht die Folge, daß sie sich selbst wieder fand. Leider aber muß man.eingestehen, daß ihre innere und äußere Sammlung weniger der sittlichen Erhebung und der Kräftigung soldatischen Pflichtgefühls, als den Eingebungen finsteren Hasses und gewaltthätiger Rach¬ sucht zuzuschreiben ist. Diesen Stimmungen hatte die republikanische Regierung es auch zu verdanken, daß die Truppen zu dieser Zeit noch völlig unempfind¬ lich blieben für die Lockungen des im Juni mit dem Socialismus Hand in Hand gehenden Bonapartismus. Erst nach gesättigter Rache und bei ge¬ stärkten Selbstgefühl war die Armee bereit, dem Rattenfängerliede der napo- leoniden das Ohr zu öffnen. Nachdem er erklärt, daß er diesmal die Wahl annehmen würde, ward Louis Napoleon aufs Neue in die Nationalversammlung gewählt und trat in dieselbe ein. Diese war mit der Berathung des Staatsgrundgesetzes der Republik beschäftigt und der Verfassungsausschuß stellte den Antrag, die Stellvertretung im Heere aufzuheben, d. h. also die allgemeine Wehrpflicht einzuführen. In einer Republik, welche die allgemeine „Gleich¬ heit" auf ihre Fahne geschrieben, hätte, so sollte man glauben, die allgemeine Wehrpflicht sich ganz von selbst verstanden; ein Widerstand gegen den Vor¬ schlag der Commission hätte unmöglich scheinen sollen. Dennoch war die Op¬ position überaus groß und ihr Wortführer war Thiers, welcher wahrhaft leidenschaftlich für die Stellvertretung eintrat, und in der That wurde der Antrag mit 663 gegen 140 Stimmen verworfen. Louis Napoleon nahm nicht das Wort in dieser Sache, daß er aber mit Thiers übereinstimmte, beweist der die Armee betreffende Passus seines Wahlmanifestes, welcher Grenzboten III. 1872- 65

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/513>, abgerufen am 22.07.2024.