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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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welchem die linken Rheinlande zu gewinnen, die "natürlichen Gränzen" Frank¬
reichs herzustellen seien. Jules Janin, der witzige Feuilletonist, vermaß sich,
in einem einzigen Feldzuge Rheinpreußen zu erobern. -- Das Ministerium
blieb mit großen Beschlüssen nicht zurück. Vor allen Dingen befahl es eine
Vermehrung der Armee. Es wurden neu errichtet an Infanterie: 8 Li¬
nien- (Ur. 68 bis 75) und 4 leichte Regimenter (Ur. 22 bis 26), an Reite¬
rei: 3 Husaren-Regimenter (Ur. 7 bis 9). Das Heer sollte auf den Kriegs¬
fuß gesetzt, die Seemacht bedeutend verstärkt und für Rüstungen eine Anleihe
von 100 Millionen aufgenommen werden. Zugleich wurde die von den Kam¬
mern bisher stets vergeblich verlangte Befestigung von Paris bewilligt
und als Zeichen äußerster Entschlossenheit sogleich begonnen. Aber nun zeigte
es sich, wie "kläglich" die Armee vernachlässigt worden sei/') wie es an Waf¬
fen und namentlich an Pferden fehle, die in Frankreich unter keinen Umstän¬
den aufzutreiben waren; man begriff, daß man sich hatte hinreißen lassen,
man machte es sich klar, was es heiße, isolirt zu sein und bei einem Kampfe
mit Halb-Europa vielleicht auch noch innere Stürme durchmachen zu müssen;
man trat den politischen Rückzug an. Zwar die Einnahme von Beirut be¬
wirkte noch einen Rückfall in den Kriegsfanatismus. Noch einmal erklangen
Gassen und Theater von der Marseillaise, klirrten die Plätze von den Waffen
der Nationalgarde; das Pariser Pflaster dröhnte unter den schweren Ge¬
schützen, die man dem Volk zum Schauspiel vorfuhr; und Thiers wollte den
Kammern die bevorstehende Vollendung von Rüstungen ankündigen, durch
welche die Truppen auf 639,000 Mann gebracht und außerdem 300,000 M.
Nationalgarde mobilisirt werden sollten. Aber der König war unterdessen
nüchtern geworden; Thiers gab das Portefeuille ab, und Marschall Soult
bildete als Cabinetspräsident und Kriegsminister ein doctrinäres Friedens-
Ministerium. Der Erfolg des ganzen Lärms war die Vermehrung der Ar¬
mee und das Deficit von einer Milliarde.

Daß übrigens mit den öffentlichen Geldern, und zwar vorzugsweise mit
denen der Kriegsverwaltung, keineswegs ehrlich gewirthschaftet wurde, das be¬
wiesen mehrere höchst peinliche und skandalöse Prozesse. Im Getreidemagazin
der Garnisonverwaltung von Paris entdeckte man nach dem Tode des Direc-
tors ein Defizit von 28,000 Ctr., und es stellte sich heraus, daß ein Subal¬
ternbeamter, der schon vor zehn Jahren auf die Unterschleife des Directors
aufmerksam gemacht, ohne Untersuchung abgesetzt und im Elend gestorben
war. Die Vorräthe des Kriegshafens von Rochefort waren seit langen Jah¬
ren systematisch von den Beamten geplündert worden; das Arsenal von Tou-
lon, wo man ähnliche Veruntreuungen vermuthete, ging in dem Augenblick,



Thiers' eigener Ausdruck in der Kammer.
Grcnzbote" III. 1872.t!4

welchem die linken Rheinlande zu gewinnen, die „natürlichen Gränzen" Frank¬
reichs herzustellen seien. Jules Janin, der witzige Feuilletonist, vermaß sich,
in einem einzigen Feldzuge Rheinpreußen zu erobern. — Das Ministerium
blieb mit großen Beschlüssen nicht zurück. Vor allen Dingen befahl es eine
Vermehrung der Armee. Es wurden neu errichtet an Infanterie: 8 Li¬
nien- (Ur. 68 bis 75) und 4 leichte Regimenter (Ur. 22 bis 26), an Reite¬
rei: 3 Husaren-Regimenter (Ur. 7 bis 9). Das Heer sollte auf den Kriegs¬
fuß gesetzt, die Seemacht bedeutend verstärkt und für Rüstungen eine Anleihe
von 100 Millionen aufgenommen werden. Zugleich wurde die von den Kam¬
mern bisher stets vergeblich verlangte Befestigung von Paris bewilligt
und als Zeichen äußerster Entschlossenheit sogleich begonnen. Aber nun zeigte
es sich, wie „kläglich" die Armee vernachlässigt worden sei/') wie es an Waf¬
fen und namentlich an Pferden fehle, die in Frankreich unter keinen Umstän¬
den aufzutreiben waren; man begriff, daß man sich hatte hinreißen lassen,
man machte es sich klar, was es heiße, isolirt zu sein und bei einem Kampfe
mit Halb-Europa vielleicht auch noch innere Stürme durchmachen zu müssen;
man trat den politischen Rückzug an. Zwar die Einnahme von Beirut be¬
wirkte noch einen Rückfall in den Kriegsfanatismus. Noch einmal erklangen
Gassen und Theater von der Marseillaise, klirrten die Plätze von den Waffen
der Nationalgarde; das Pariser Pflaster dröhnte unter den schweren Ge¬
schützen, die man dem Volk zum Schauspiel vorfuhr; und Thiers wollte den
Kammern die bevorstehende Vollendung von Rüstungen ankündigen, durch
welche die Truppen auf 639,000 Mann gebracht und außerdem 300,000 M.
Nationalgarde mobilisirt werden sollten. Aber der König war unterdessen
nüchtern geworden; Thiers gab das Portefeuille ab, und Marschall Soult
bildete als Cabinetspräsident und Kriegsminister ein doctrinäres Friedens-
Ministerium. Der Erfolg des ganzen Lärms war die Vermehrung der Ar¬
mee und das Deficit von einer Milliarde.

Daß übrigens mit den öffentlichen Geldern, und zwar vorzugsweise mit
denen der Kriegsverwaltung, keineswegs ehrlich gewirthschaftet wurde, das be¬
wiesen mehrere höchst peinliche und skandalöse Prozesse. Im Getreidemagazin
der Garnisonverwaltung von Paris entdeckte man nach dem Tode des Direc-
tors ein Defizit von 28,000 Ctr., und es stellte sich heraus, daß ein Subal¬
ternbeamter, der schon vor zehn Jahren auf die Unterschleife des Directors
aufmerksam gemacht, ohne Untersuchung abgesetzt und im Elend gestorben
war. Die Vorräthe des Kriegshafens von Rochefort waren seit langen Jah¬
ren systematisch von den Beamten geplündert worden; das Arsenal von Tou-
lon, wo man ähnliche Veruntreuungen vermuthete, ging in dem Augenblick,



Thiers' eigener Ausdruck in der Kammer.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/505>, abgerufen am 23.07.2024.