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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Christenthums als an eine noch überall in der Kirche verbreitete und wirk¬
same lebendige Kraft glauben? Wie sehr überhaupt Schleiermacher in früherer
Zeit darauf bedacht war, nicht sowohl eine Lösung der Kirche vom Staate
herzustellen als vielmehr ihre Selbstständigkeit im Staate zu sichern und wie
weit er auf das in seiner Zeit Erreichbare sich beschränkte, dafür legt der An¬
fangs erwähnte Entwurf einer Kirchenverfassung vom Jahre 1808 Beweis
ab. Es kann natürlich nicht meine Absicht sein, die einzelnen Paragraphen
dieses Entwurfs hier mitzutheilen, ich beschränke mich darauf, ihn mit den
eigenen Worten des Verfassers zu charcikterisiren und einzelne erläuternde Be¬
stimmungen hervorzuheben. Schleiermacher sagt: "Das Wesentliche der neuen
Verfassung würde dann darin bestehen, daß die gesammte Geistlichkeit zweck¬
mäßig in eine Anzahl von Synoden getheilt würde, die sich zu bestimmten
Zeiten versammeln müßten, um über die kirchlichen Angelegenheiten zu berath¬
schlagen. Alle Synoden einer Provinz ständen unter einem Bischof und eini¬
gen ihm beigeordneten Theologen und von diesen hinge dann alles ab, was
zur innern Kirchenzucht und Ordnung, zur Besetzung der Pfarrstellen und zur
Verbesserung des Gottesdienstes in allen seinen Theilen gehört. Die Bischöfe
selbst wieder unter ein allgemeines geistliches Oberhaupt zu vereinigen, würde
ganz gegen den Geist des Protestantismus sein, wohl aber müßte wenigstens
Aussicht offen erhalten sein, in dringenden Fällen unter der Autorität des
Königs aus den Deputirten aller Bisthümer eine allgemeine Synode versam¬
meln zu können. Die Oberaufsicht des Staats würde geführt durch einen
hohen Beamten, welchem ein aus wenigen Mitgliedern bestehender Kirchenrath
beigegeben wäre. Außerdem bestellte er in jedem Bisthum einen Provinzial-
commissarius, dem wiederum in jeder Synode ein Bevollmächtigter unterge¬
ordnet wäre, um überall die Rechte des Staates wahr zu nehmen. Gehen
wir nun auf das Einzelne ein. Die kirchliche Gemeinde im weiteren Sinne
besteht aus den mündigen christlichen Staatsbürgern, hier also doch evangeli¬
schen Staatsbürgern, die, mögen sie sich zu einer christlichen Gemeinde halten
oder nicht, doch im Interesse ihrer Angehörigen verpflichtet sind, an den
kirchlichen Lasten Theil zu nehmen, wie denn auch jeder verpflichtet ist, seine
Kinder taufen und den öffentlichen Religionsunterricht genießen zu lassen; im
engeren Sinne ist sie zusammengesetzt aus denen, welche sich als Glieder der
Gemeinde dadurch beweisen, daß sie zweimal jährlich in den Communicanten-
listen der Gemeinden aufgezeichnet stehen. Wer sich so nicht legitimirt, wird
angesehen als habe er sein Recht der Gesammtheit übertragen. An der Spitze
der Gemeinde steht das Presbyterium aus den Predigern und Aeltesten ge¬
bildet, welche letzteren von den stimmfähigen männlichen Mitgliedern auf eine
bestimmte Zeit gewählt werden. In der Hand des Presbyterium liegt die
Verwaltung des Kirchenvermögens, die Aufsicht über die Elementar- und


Christenthums als an eine noch überall in der Kirche verbreitete und wirk¬
same lebendige Kraft glauben? Wie sehr überhaupt Schleiermacher in früherer
Zeit darauf bedacht war, nicht sowohl eine Lösung der Kirche vom Staate
herzustellen als vielmehr ihre Selbstständigkeit im Staate zu sichern und wie
weit er auf das in seiner Zeit Erreichbare sich beschränkte, dafür legt der An¬
fangs erwähnte Entwurf einer Kirchenverfassung vom Jahre 1808 Beweis
ab. Es kann natürlich nicht meine Absicht sein, die einzelnen Paragraphen
dieses Entwurfs hier mitzutheilen, ich beschränke mich darauf, ihn mit den
eigenen Worten des Verfassers zu charcikterisiren und einzelne erläuternde Be¬
stimmungen hervorzuheben. Schleiermacher sagt: „Das Wesentliche der neuen
Verfassung würde dann darin bestehen, daß die gesammte Geistlichkeit zweck¬
mäßig in eine Anzahl von Synoden getheilt würde, die sich zu bestimmten
Zeiten versammeln müßten, um über die kirchlichen Angelegenheiten zu berath¬
schlagen. Alle Synoden einer Provinz ständen unter einem Bischof und eini¬
gen ihm beigeordneten Theologen und von diesen hinge dann alles ab, was
zur innern Kirchenzucht und Ordnung, zur Besetzung der Pfarrstellen und zur
Verbesserung des Gottesdienstes in allen seinen Theilen gehört. Die Bischöfe
selbst wieder unter ein allgemeines geistliches Oberhaupt zu vereinigen, würde
ganz gegen den Geist des Protestantismus sein, wohl aber müßte wenigstens
Aussicht offen erhalten sein, in dringenden Fällen unter der Autorität des
Königs aus den Deputirten aller Bisthümer eine allgemeine Synode versam¬
meln zu können. Die Oberaufsicht des Staats würde geführt durch einen
hohen Beamten, welchem ein aus wenigen Mitgliedern bestehender Kirchenrath
beigegeben wäre. Außerdem bestellte er in jedem Bisthum einen Provinzial-
commissarius, dem wiederum in jeder Synode ein Bevollmächtigter unterge¬
ordnet wäre, um überall die Rechte des Staates wahr zu nehmen. Gehen
wir nun auf das Einzelne ein. Die kirchliche Gemeinde im weiteren Sinne
besteht aus den mündigen christlichen Staatsbürgern, hier also doch evangeli¬
schen Staatsbürgern, die, mögen sie sich zu einer christlichen Gemeinde halten
oder nicht, doch im Interesse ihrer Angehörigen verpflichtet sind, an den
kirchlichen Lasten Theil zu nehmen, wie denn auch jeder verpflichtet ist, seine
Kinder taufen und den öffentlichen Religionsunterricht genießen zu lassen; im
engeren Sinne ist sie zusammengesetzt aus denen, welche sich als Glieder der
Gemeinde dadurch beweisen, daß sie zweimal jährlich in den Communicanten-
listen der Gemeinden aufgezeichnet stehen. Wer sich so nicht legitimirt, wird
angesehen als habe er sein Recht der Gesammtheit übertragen. An der Spitze
der Gemeinde steht das Presbyterium aus den Predigern und Aeltesten ge¬
bildet, welche letzteren von den stimmfähigen männlichen Mitgliedern auf eine
bestimmte Zeit gewählt werden. In der Hand des Presbyterium liegt die
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/495>, abgerufen am 23.07.2024.