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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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senden. Die erstere hänge mit der Schwierigkeit zusammen, eine strenge Re¬
gelmäßigkeit in größeren Versammlungen herzustellen, das letztere gehe aus
dem Bewußtsein der Weltlichen hervor, sich nicht als sachkundige Mitglieder
zur Geltung bringen zu können. Doch scheinen ihm beide Schwierigkeiten
nicht unüberwindlich. Je mehr die Geistlichen eine persönliche Autorität ge¬
nießen, desto mehr, hofft er, würden sie dem Tumultuarischen vorbeugen kön¬
nen ; und je mehr in der Gemeinde ein Verständniß der inneren Angelegen¬
heiten sich bilde, desto leichter werde die Gesinnung zwischen Geistlichen und
Laien sich lösen. Den großen Vorzug dieser Verfassung aber findet er darin,
daß die kirchlichen Angelegenheiten hier auch im kirchlichen Interesse verwaltet
würden; nur in Zeiten der politischen Gährung könnte die kirchliche Ver¬
sammlung einen politischen Character annehmen.

Die Frage, welche Verfassung der evangelischen Kirche am heilsamsten
sei, ist daher für Schleiermacher nach dem Vorhergehenden schon beantwortet.
Diese Antwort bedarf aber noch besonderer Begründung. An sich läßt sich
wohl sagen, daß die verschiednen Verfassungen in der evangelischen Kirche mit
den Umständen zusammenhängen, unter welchen sich die Kirche gebildet hat,
durch eine ursprüngliche, keiner Regel unterworfene Thätigkeit entstanden sind.
Und so treten auch Wandelungen, Veränderungen ein, die den Character des
Unwillkürlichen, Unbewußten an sich tragen, weil sie aus dem gleich der
organischen Natur wirksamen Gemeingeist entspringen. Aber es treten auch
Veränderungen ein, die mit Bewußtsein und nach gewissen Regeln geschehen.
Und hier muß die Frage ausgeworfen werden, was kann man thun, um die
Verfassung der Gestalt der besten allmählig näher zu bringen. Also noch ein¬
mal erhebt sich die Frage, welche Kirchenverfassung ist die beste. Schleier¬
macher beantwortet sie, indem er zuerst einen allgemeinen formalen Grundsatz,
der durch Analogie der Natur gewonnen ist, aufstellt: Je freier von andern
Naturoperationen und je ungestörter ein Gestaltungsproceß vor sich geht, desto
vollkommener geht er vor sich. Aber dieser Grundsatz ist doch zu unbestimmt
ein entscheidendes Urtheil zu fällen. Es empfiehlt sich daher vom Wesen der
evangelischen Kirche, ihrer Eigenthümlichkeit, ihrem Character auszugehen. Die
evangelische Kirche steht im Gegensatz zur katholischen, daher wird jede Ver¬
fassung, die auf solche Weise der katholischen sich annähert, daß der Gegensatz
zwischen beiden Kirchen dadurch abgestumpft wird, nicht zuträglich für die
evangelische Kirche sein, bis daß wir annehmen können, daß der Gegensatz
sein Maximum erreicht habe. Worin ist nun aber der principielle Gegensatz
zwischen Katholicismus und Protestantismus begründet? In formaler Hin¬
sicht in der absoluten Dignität der heiligen Schrift. Die christliche Wahr¬
heit, sagt Schleiermacher, ist implicite in der Schrift enthalten, aber die Ent¬
wicklung derselben ist aus der Schrift, ist ein immer fortgehender Proceß, der


senden. Die erstere hänge mit der Schwierigkeit zusammen, eine strenge Re¬
gelmäßigkeit in größeren Versammlungen herzustellen, das letztere gehe aus
dem Bewußtsein der Weltlichen hervor, sich nicht als sachkundige Mitglieder
zur Geltung bringen zu können. Doch scheinen ihm beide Schwierigkeiten
nicht unüberwindlich. Je mehr die Geistlichen eine persönliche Autorität ge¬
nießen, desto mehr, hofft er, würden sie dem Tumultuarischen vorbeugen kön¬
nen ; und je mehr in der Gemeinde ein Verständniß der inneren Angelegen¬
heiten sich bilde, desto leichter werde die Gesinnung zwischen Geistlichen und
Laien sich lösen. Den großen Vorzug dieser Verfassung aber findet er darin,
daß die kirchlichen Angelegenheiten hier auch im kirchlichen Interesse verwaltet
würden; nur in Zeiten der politischen Gährung könnte die kirchliche Ver¬
sammlung einen politischen Character annehmen.

Die Frage, welche Verfassung der evangelischen Kirche am heilsamsten
sei, ist daher für Schleiermacher nach dem Vorhergehenden schon beantwortet.
Diese Antwort bedarf aber noch besonderer Begründung. An sich läßt sich
wohl sagen, daß die verschiednen Verfassungen in der evangelischen Kirche mit
den Umständen zusammenhängen, unter welchen sich die Kirche gebildet hat,
durch eine ursprüngliche, keiner Regel unterworfene Thätigkeit entstanden sind.
Und so treten auch Wandelungen, Veränderungen ein, die den Character des
Unwillkürlichen, Unbewußten an sich tragen, weil sie aus dem gleich der
organischen Natur wirksamen Gemeingeist entspringen. Aber es treten auch
Veränderungen ein, die mit Bewußtsein und nach gewissen Regeln geschehen.
Und hier muß die Frage ausgeworfen werden, was kann man thun, um die
Verfassung der Gestalt der besten allmählig näher zu bringen. Also noch ein¬
mal erhebt sich die Frage, welche Kirchenverfassung ist die beste. Schleier¬
macher beantwortet sie, indem er zuerst einen allgemeinen formalen Grundsatz,
der durch Analogie der Natur gewonnen ist, aufstellt: Je freier von andern
Naturoperationen und je ungestörter ein Gestaltungsproceß vor sich geht, desto
vollkommener geht er vor sich. Aber dieser Grundsatz ist doch zu unbestimmt
ein entscheidendes Urtheil zu fällen. Es empfiehlt sich daher vom Wesen der
evangelischen Kirche, ihrer Eigenthümlichkeit, ihrem Character auszugehen. Die
evangelische Kirche steht im Gegensatz zur katholischen, daher wird jede Ver¬
fassung, die auf solche Weise der katholischen sich annähert, daß der Gegensatz
zwischen beiden Kirchen dadurch abgestumpft wird, nicht zuträglich für die
evangelische Kirche sein, bis daß wir annehmen können, daß der Gegensatz
sein Maximum erreicht habe. Worin ist nun aber der principielle Gegensatz
zwischen Katholicismus und Protestantismus begründet? In formaler Hin¬
sicht in der absoluten Dignität der heiligen Schrift. Die christliche Wahr¬
heit, sagt Schleiermacher, ist implicite in der Schrift enthalten, aber die Ent¬
wicklung derselben ist aus der Schrift, ist ein immer fortgehender Proceß, der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/491>, abgerufen am 24.07.2024.