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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Es gibt in Frankreich Partei-Männer, Partisanen, aber keine Patrioten:
vier oder'fünf politische Parteien aber keinen Patriotismus. Während also
Deutschland einig wird, wird Frankreich vom Parteizwist zerrissen. Im letzten
Kriege hat der französische Adel sich fürs Vaterland aufgeopfert, aber die So¬
cialisten haben nicht kämpfen wollen: sie sind ja Anhänger des Friedens.

Reich ist Frankreich, aber war nicht Reichthum Zeitgenosse des Verfalls
aller Staaten. Dieser Fall aber hat überall längere Zeit verlangt und ist
nicht das Werk eines Jahres gewesen. So hat Frankreich im letzten Kriege
nur zwei Provinzen verloren und wer sagt uns, daß es im nächsten nicht
eben so viel oder mehr verlieren wird? War es doch die zerstörende Wirkung
der Mitrailleusen, welche Napoleon III. dazu bewog, den Krieg an Deutsch¬
land zu erklären und Thiers hat in Trouville Versuche mit Kanonen ange¬
stellt, mit denen er sehr zufrieden war. Bei dem allgemeinen Geschrei nach
Revanche gehört sehr wenig dazu, Frankreich wieder in einen sehr verhärig-
nißvollen Krieg zu stürzen.

Ein Bürgerkrieg ist noch leichter möglich. Weil man die Internationale
zur Thüre hinausgewiesen hat, liegt noch kein Grund vor, daß sie durchs
Fenster nicht zurückkomme und zwischen ihr und der französischen jetzigen
Regierung ist kein Compromiß möglich. Mit dem Degen kann man
den socialistischen Knoten auch nicht durchschneiden. Wol ist die Zahl
von 22 Millionen Grundbesitzern in Frankreich beruhigend. Das indi¬
viduelle Landeigenthum wird das collective nicht so bald aufkommen
lassen. Aber alle diese Fragen ragen über die Köpfe der französischen
Staatsleute ellenhoch empor. Die 742 Mitglieder der Versailler Volksversamm¬
lung haben Verstand für Viere und thun auch nur die Arbeit von Vieren.
Denn während der Deutsche Reichstag eine große Anzahl wichtiger Beschlüsse
und Gesetze von allgemeinem Interesse beschlossen hat, hat das Versailler Haus
deren vier oder fünfe zu Stande gebracht. Die übrige Zeit ist in Partei-
Streitigkeiten verloren worden. Nun handelt es sich aber wie gesagt ernst¬
lich darum, eine andere Kammer, ein Oberhaus zu stiften, damit es conser-
vativ wirke, und zwar soll es von den Generalräthen gewählt werden.

Alte Kleider und Galons freilich, wenn auch aufgefrischt, dauern nur
kurze Zeit und helfen gar nichts. Panaceen sind keine gesunden Arzeneien,
aber französische Staatsmänner sind Salbenhändler, wenn sie nicht Seiltänzer
sind. Wie hart auch der Name "westliches China" ist, kann man ihn doch
Frankreich geben, denn es ist und bleibt das Land der Routine; gleichviel wer
an die Negierung kommt, er macht es stets wie seine Vorgänger und alle
französischen Beamten sind weder leicht zu sehen noch leicht zu sprechen; der
Zutritt zu ihnen ist schwer. Sie vergessen, daß die amerikanische wie die fran¬
zösische Revolution wegen des langen Wartens in den Vorzimmern zum Aus¬
bruch kam. In Boston hieß es t" äanee Attöiiäanee und in Paris ks.irö
imtiellambre.




Verantwortlicher Redacteur: Dr. Hans Blum.
Verlast von F. L. Hcrliig. -- Druck von Hüthcl 6 Legler in Leipzig.

Es gibt in Frankreich Partei-Männer, Partisanen, aber keine Patrioten:
vier oder'fünf politische Parteien aber keinen Patriotismus. Während also
Deutschland einig wird, wird Frankreich vom Parteizwist zerrissen. Im letzten
Kriege hat der französische Adel sich fürs Vaterland aufgeopfert, aber die So¬
cialisten haben nicht kämpfen wollen: sie sind ja Anhänger des Friedens.

Reich ist Frankreich, aber war nicht Reichthum Zeitgenosse des Verfalls
aller Staaten. Dieser Fall aber hat überall längere Zeit verlangt und ist
nicht das Werk eines Jahres gewesen. So hat Frankreich im letzten Kriege
nur zwei Provinzen verloren und wer sagt uns, daß es im nächsten nicht
eben so viel oder mehr verlieren wird? War es doch die zerstörende Wirkung
der Mitrailleusen, welche Napoleon III. dazu bewog, den Krieg an Deutsch¬
land zu erklären und Thiers hat in Trouville Versuche mit Kanonen ange¬
stellt, mit denen er sehr zufrieden war. Bei dem allgemeinen Geschrei nach
Revanche gehört sehr wenig dazu, Frankreich wieder in einen sehr verhärig-
nißvollen Krieg zu stürzen.

Ein Bürgerkrieg ist noch leichter möglich. Weil man die Internationale
zur Thüre hinausgewiesen hat, liegt noch kein Grund vor, daß sie durchs
Fenster nicht zurückkomme und zwischen ihr und der französischen jetzigen
Regierung ist kein Compromiß möglich. Mit dem Degen kann man
den socialistischen Knoten auch nicht durchschneiden. Wol ist die Zahl
von 22 Millionen Grundbesitzern in Frankreich beruhigend. Das indi¬
viduelle Landeigenthum wird das collective nicht so bald aufkommen
lassen. Aber alle diese Fragen ragen über die Köpfe der französischen
Staatsleute ellenhoch empor. Die 742 Mitglieder der Versailler Volksversamm¬
lung haben Verstand für Viere und thun auch nur die Arbeit von Vieren.
Denn während der Deutsche Reichstag eine große Anzahl wichtiger Beschlüsse
und Gesetze von allgemeinem Interesse beschlossen hat, hat das Versailler Haus
deren vier oder fünfe zu Stande gebracht. Die übrige Zeit ist in Partei-
Streitigkeiten verloren worden. Nun handelt es sich aber wie gesagt ernst¬
lich darum, eine andere Kammer, ein Oberhaus zu stiften, damit es conser-
vativ wirke, und zwar soll es von den Generalräthen gewählt werden.

Alte Kleider und Galons freilich, wenn auch aufgefrischt, dauern nur
kurze Zeit und helfen gar nichts. Panaceen sind keine gesunden Arzeneien,
aber französische Staatsmänner sind Salbenhändler, wenn sie nicht Seiltänzer
sind. Wie hart auch der Name „westliches China" ist, kann man ihn doch
Frankreich geben, denn es ist und bleibt das Land der Routine; gleichviel wer
an die Negierung kommt, er macht es stets wie seine Vorgänger und alle
französischen Beamten sind weder leicht zu sehen noch leicht zu sprechen; der
Zutritt zu ihnen ist schwer. Sie vergessen, daß die amerikanische wie die fran¬
zösische Revolution wegen des langen Wartens in den Vorzimmern zum Aus¬
bruch kam. In Boston hieß es t» äanee Attöiiäanee und in Paris ks.irö
imtiellambre.




Verantwortlicher Redacteur: Dr. Hans Blum.
Verlast von F. L. Hcrliig. — Druck von Hüthcl 6 Legler in Leipzig.
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[0480] Es gibt in Frankreich Partei-Männer, Partisanen, aber keine Patrioten: vier oder'fünf politische Parteien aber keinen Patriotismus. Während also Deutschland einig wird, wird Frankreich vom Parteizwist zerrissen. Im letzten Kriege hat der französische Adel sich fürs Vaterland aufgeopfert, aber die So¬ cialisten haben nicht kämpfen wollen: sie sind ja Anhänger des Friedens. Reich ist Frankreich, aber war nicht Reichthum Zeitgenosse des Verfalls aller Staaten. Dieser Fall aber hat überall längere Zeit verlangt und ist nicht das Werk eines Jahres gewesen. So hat Frankreich im letzten Kriege nur zwei Provinzen verloren und wer sagt uns, daß es im nächsten nicht eben so viel oder mehr verlieren wird? War es doch die zerstörende Wirkung der Mitrailleusen, welche Napoleon III. dazu bewog, den Krieg an Deutsch¬ land zu erklären und Thiers hat in Trouville Versuche mit Kanonen ange¬ stellt, mit denen er sehr zufrieden war. Bei dem allgemeinen Geschrei nach Revanche gehört sehr wenig dazu, Frankreich wieder in einen sehr verhärig- nißvollen Krieg zu stürzen. Ein Bürgerkrieg ist noch leichter möglich. Weil man die Internationale zur Thüre hinausgewiesen hat, liegt noch kein Grund vor, daß sie durchs Fenster nicht zurückkomme und zwischen ihr und der französischen jetzigen Regierung ist kein Compromiß möglich. Mit dem Degen kann man den socialistischen Knoten auch nicht durchschneiden. Wol ist die Zahl von 22 Millionen Grundbesitzern in Frankreich beruhigend. Das indi¬ viduelle Landeigenthum wird das collective nicht so bald aufkommen lassen. Aber alle diese Fragen ragen über die Köpfe der französischen Staatsleute ellenhoch empor. Die 742 Mitglieder der Versailler Volksversamm¬ lung haben Verstand für Viere und thun auch nur die Arbeit von Vieren. Denn während der Deutsche Reichstag eine große Anzahl wichtiger Beschlüsse und Gesetze von allgemeinem Interesse beschlossen hat, hat das Versailler Haus deren vier oder fünfe zu Stande gebracht. Die übrige Zeit ist in Partei- Streitigkeiten verloren worden. Nun handelt es sich aber wie gesagt ernst¬ lich darum, eine andere Kammer, ein Oberhaus zu stiften, damit es conser- vativ wirke, und zwar soll es von den Generalräthen gewählt werden. Alte Kleider und Galons freilich, wenn auch aufgefrischt, dauern nur kurze Zeit und helfen gar nichts. Panaceen sind keine gesunden Arzeneien, aber französische Staatsmänner sind Salbenhändler, wenn sie nicht Seiltänzer sind. Wie hart auch der Name „westliches China" ist, kann man ihn doch Frankreich geben, denn es ist und bleibt das Land der Routine; gleichviel wer an die Negierung kommt, er macht es stets wie seine Vorgänger und alle französischen Beamten sind weder leicht zu sehen noch leicht zu sprechen; der Zutritt zu ihnen ist schwer. Sie vergessen, daß die amerikanische wie die fran¬ zösische Revolution wegen des langen Wartens in den Vorzimmern zum Aus¬ bruch kam. In Boston hieß es t» äanee Attöiiäanee und in Paris ks.irö imtiellambre. Verantwortlicher Redacteur: Dr. Hans Blum. Verlast von F. L. Hcrliig. — Druck von Hüthcl 6 Legler in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/480>, abgerufen am 29.09.2024.