Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Arm. durch die Kälte gleichfalls zum größten Mitleid mit sich und dem armen
Opfer gestimmt, das zwischen ihnen mit blitzblauem entkleideten Oberkörper
kettenklirrend einherwankte. Dann folgte ich, oder richtiger meine Wenigkeit,
denn ich war damals zwar so hoch wie jetzt, aber erheblich magerer, und ich
fühlte, wie mein bischen Fleisch in dem leichten schwarzen Tuchanzug, der
mich umschlotterte, bis an den Knochen zusammenschnurrte. Ich nahm dann
und wann feierlich eine Prise, wie ich jetzt noch zu thun pflege. Hinter mir
trug der Profoß das Urtheil mit dem großen Jnsiegel, und die Mutter dieses
ganzen Auszugs, die schweinslederne Halsgerichtsordnung. Ein Zug Dragoner
beschloß den Zug.

Wir hatten noch nicht zweihundert Schritte gethan, so hatte sich schon
die Volksmenge zu beiden Seiten unseres Wegs zu einem lebendigen Spalier
verdichtet, das stets enger sich aneinanderschloß. Die Menge schritt neben
uns her nach dem Ring. Als ich vor dem Rathhause, wo der alte Staupen¬
pfahl mit dem Halseisen stand und vor dem Rathhausbalcon, wo dereinst
das Blutgericht an langer Tafel Recht gesprochen hatte, halten ließ, war die
Menge viele hundert Köpfe stark, doch hielt sie streng das von den Dragonern
abgesteckte Carre inne. Ich las mit meiner weit vernehmlichen Stimme das
Urtheil vor. Die Menge drängte von allen Seiten heran, vielleicht um noch
besser zu hören oder das seltsame Schauspiel besser zu sehen, oder aus Ent¬
rüstung über den Delinquenten -- kurz die Dragoner konnten die Linien des
Carre's nicht mehr halten und wichen schrittweise langsam zurück nach uns
zu. Ich gebot nun dem Scharfrichter mit einer Stimme, die sicherlich in den
weitesten Ecken des "Ringes" vernehmlich war, den Staupenschlag zu vollziehen.
Die sechs Knechte nahmen den Brandstifter in die Mitte und erhoben die
Ruthen. Aber in dem Moment, wo der erste Schlag erfolgte, verging mir
Hören und Sehen. Dragoner, Scharfrichter, Delinquent, Profoß und Knechte
wurden meinen Blicken mit einer zauberhaften Schnelligkeit entrückt. Ich
fand mich wenige Secunden später zwei Straßen vom Marktplatze entfernt.
Bis dahin hatte mich ein stets wechselnder, um mich kreisender Volksknäuel
förmlich getragen. Wie das geschah, kann ich heute noch nicht sagen; ich hatte
nur bemerkt, wie ein dichter Volkshaufe sich zwischen mich und den Delin¬
quenten schob; das übrige war mir bei der haarsträubenden Schnelligkeit
meiner Vorwärtswimmelung entgangen. Ich suchte pflichtgemäß natürlich
nun zuerst wieder den Ring auf. Er war absolut menschenleer. Ich eilte
nach dem Gerichtsgebäude. Hier fand ich meinen ganzen Zug wohlbehalten
wieder; es fehlte nicht ein theures Haupt. Sämmtliche Mitglieder des Zugs
waren mit derselben Schnelligkeit von der Menge nach dieser Richtung beför¬
dert worden, wie ich nach der entgegengesetzten. Ich begnügte mich mit dieser
Erfahrung. Der Geist des neunzehnten Jahrhunderts hatte in der kräftigsten


Arm. durch die Kälte gleichfalls zum größten Mitleid mit sich und dem armen
Opfer gestimmt, das zwischen ihnen mit blitzblauem entkleideten Oberkörper
kettenklirrend einherwankte. Dann folgte ich, oder richtiger meine Wenigkeit,
denn ich war damals zwar so hoch wie jetzt, aber erheblich magerer, und ich
fühlte, wie mein bischen Fleisch in dem leichten schwarzen Tuchanzug, der
mich umschlotterte, bis an den Knochen zusammenschnurrte. Ich nahm dann
und wann feierlich eine Prise, wie ich jetzt noch zu thun pflege. Hinter mir
trug der Profoß das Urtheil mit dem großen Jnsiegel, und die Mutter dieses
ganzen Auszugs, die schweinslederne Halsgerichtsordnung. Ein Zug Dragoner
beschloß den Zug.

Wir hatten noch nicht zweihundert Schritte gethan, so hatte sich schon
die Volksmenge zu beiden Seiten unseres Wegs zu einem lebendigen Spalier
verdichtet, das stets enger sich aneinanderschloß. Die Menge schritt neben
uns her nach dem Ring. Als ich vor dem Rathhause, wo der alte Staupen¬
pfahl mit dem Halseisen stand und vor dem Rathhausbalcon, wo dereinst
das Blutgericht an langer Tafel Recht gesprochen hatte, halten ließ, war die
Menge viele hundert Köpfe stark, doch hielt sie streng das von den Dragonern
abgesteckte Carre inne. Ich las mit meiner weit vernehmlichen Stimme das
Urtheil vor. Die Menge drängte von allen Seiten heran, vielleicht um noch
besser zu hören oder das seltsame Schauspiel besser zu sehen, oder aus Ent¬
rüstung über den Delinquenten — kurz die Dragoner konnten die Linien des
Carre's nicht mehr halten und wichen schrittweise langsam zurück nach uns
zu. Ich gebot nun dem Scharfrichter mit einer Stimme, die sicherlich in den
weitesten Ecken des „Ringes" vernehmlich war, den Staupenschlag zu vollziehen.
Die sechs Knechte nahmen den Brandstifter in die Mitte und erhoben die
Ruthen. Aber in dem Moment, wo der erste Schlag erfolgte, verging mir
Hören und Sehen. Dragoner, Scharfrichter, Delinquent, Profoß und Knechte
wurden meinen Blicken mit einer zauberhaften Schnelligkeit entrückt. Ich
fand mich wenige Secunden später zwei Straßen vom Marktplatze entfernt.
Bis dahin hatte mich ein stets wechselnder, um mich kreisender Volksknäuel
förmlich getragen. Wie das geschah, kann ich heute noch nicht sagen; ich hatte
nur bemerkt, wie ein dichter Volkshaufe sich zwischen mich und den Delin¬
quenten schob; das übrige war mir bei der haarsträubenden Schnelligkeit
meiner Vorwärtswimmelung entgangen. Ich suchte pflichtgemäß natürlich
nun zuerst wieder den Ring auf. Er war absolut menschenleer. Ich eilte
nach dem Gerichtsgebäude. Hier fand ich meinen ganzen Zug wohlbehalten
wieder; es fehlte nicht ein theures Haupt. Sämmtliche Mitglieder des Zugs
waren mit derselben Schnelligkeit von der Menge nach dieser Richtung beför¬
dert worden, wie ich nach der entgegengesetzten. Ich begnügte mich mit dieser
Erfahrung. Der Geist des neunzehnten Jahrhunderts hatte in der kräftigsten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0472" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128400"/>
          <p xml:id="ID_1596" prev="#ID_1595"> Arm. durch die Kälte gleichfalls zum größten Mitleid mit sich und dem armen<lb/>
Opfer gestimmt, das zwischen ihnen mit blitzblauem entkleideten Oberkörper<lb/>
kettenklirrend einherwankte. Dann folgte ich, oder richtiger meine Wenigkeit,<lb/>
denn ich war damals zwar so hoch wie jetzt, aber erheblich magerer, und ich<lb/>
fühlte, wie mein bischen Fleisch in dem leichten schwarzen Tuchanzug, der<lb/>
mich umschlotterte, bis an den Knochen zusammenschnurrte. Ich nahm dann<lb/>
und wann feierlich eine Prise, wie ich jetzt noch zu thun pflege. Hinter mir<lb/>
trug der Profoß das Urtheil mit dem großen Jnsiegel, und die Mutter dieses<lb/>
ganzen Auszugs, die schweinslederne Halsgerichtsordnung. Ein Zug Dragoner<lb/>
beschloß den Zug.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1597" next="#ID_1598"> Wir hatten noch nicht zweihundert Schritte gethan, so hatte sich schon<lb/>
die Volksmenge zu beiden Seiten unseres Wegs zu einem lebendigen Spalier<lb/>
verdichtet, das stets enger sich aneinanderschloß. Die Menge schritt neben<lb/>
uns her nach dem Ring. Als ich vor dem Rathhause, wo der alte Staupen¬<lb/>
pfahl mit dem Halseisen stand und vor dem Rathhausbalcon, wo dereinst<lb/>
das Blutgericht an langer Tafel Recht gesprochen hatte, halten ließ, war die<lb/>
Menge viele hundert Köpfe stark, doch hielt sie streng das von den Dragonern<lb/>
abgesteckte Carre inne. Ich las mit meiner weit vernehmlichen Stimme das<lb/>
Urtheil vor. Die Menge drängte von allen Seiten heran, vielleicht um noch<lb/>
besser zu hören oder das seltsame Schauspiel besser zu sehen, oder aus Ent¬<lb/>
rüstung über den Delinquenten &#x2014; kurz die Dragoner konnten die Linien des<lb/>
Carre's nicht mehr halten und wichen schrittweise langsam zurück nach uns<lb/>
zu. Ich gebot nun dem Scharfrichter mit einer Stimme, die sicherlich in den<lb/>
weitesten Ecken des &#x201E;Ringes" vernehmlich war, den Staupenschlag zu vollziehen.<lb/>
Die sechs Knechte nahmen den Brandstifter in die Mitte und erhoben die<lb/>
Ruthen. Aber in dem Moment, wo der erste Schlag erfolgte, verging mir<lb/>
Hören und Sehen. Dragoner, Scharfrichter, Delinquent, Profoß und Knechte<lb/>
wurden meinen Blicken mit einer zauberhaften Schnelligkeit entrückt. Ich<lb/>
fand mich wenige Secunden später zwei Straßen vom Marktplatze entfernt.<lb/>
Bis dahin hatte mich ein stets wechselnder, um mich kreisender Volksknäuel<lb/>
förmlich getragen. Wie das geschah, kann ich heute noch nicht sagen; ich hatte<lb/>
nur bemerkt, wie ein dichter Volkshaufe sich zwischen mich und den Delin¬<lb/>
quenten schob; das übrige war mir bei der haarsträubenden Schnelligkeit<lb/>
meiner Vorwärtswimmelung entgangen. Ich suchte pflichtgemäß natürlich<lb/>
nun zuerst wieder den Ring auf. Er war absolut menschenleer. Ich eilte<lb/>
nach dem Gerichtsgebäude. Hier fand ich meinen ganzen Zug wohlbehalten<lb/>
wieder; es fehlte nicht ein theures Haupt. Sämmtliche Mitglieder des Zugs<lb/>
waren mit derselben Schnelligkeit von der Menge nach dieser Richtung beför¬<lb/>
dert worden, wie ich nach der entgegengesetzten. Ich begnügte mich mit dieser<lb/>
Erfahrung. Der Geist des neunzehnten Jahrhunderts hatte in der kräftigsten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0472] Arm. durch die Kälte gleichfalls zum größten Mitleid mit sich und dem armen Opfer gestimmt, das zwischen ihnen mit blitzblauem entkleideten Oberkörper kettenklirrend einherwankte. Dann folgte ich, oder richtiger meine Wenigkeit, denn ich war damals zwar so hoch wie jetzt, aber erheblich magerer, und ich fühlte, wie mein bischen Fleisch in dem leichten schwarzen Tuchanzug, der mich umschlotterte, bis an den Knochen zusammenschnurrte. Ich nahm dann und wann feierlich eine Prise, wie ich jetzt noch zu thun pflege. Hinter mir trug der Profoß das Urtheil mit dem großen Jnsiegel, und die Mutter dieses ganzen Auszugs, die schweinslederne Halsgerichtsordnung. Ein Zug Dragoner beschloß den Zug. Wir hatten noch nicht zweihundert Schritte gethan, so hatte sich schon die Volksmenge zu beiden Seiten unseres Wegs zu einem lebendigen Spalier verdichtet, das stets enger sich aneinanderschloß. Die Menge schritt neben uns her nach dem Ring. Als ich vor dem Rathhause, wo der alte Staupen¬ pfahl mit dem Halseisen stand und vor dem Rathhausbalcon, wo dereinst das Blutgericht an langer Tafel Recht gesprochen hatte, halten ließ, war die Menge viele hundert Köpfe stark, doch hielt sie streng das von den Dragonern abgesteckte Carre inne. Ich las mit meiner weit vernehmlichen Stimme das Urtheil vor. Die Menge drängte von allen Seiten heran, vielleicht um noch besser zu hören oder das seltsame Schauspiel besser zu sehen, oder aus Ent¬ rüstung über den Delinquenten — kurz die Dragoner konnten die Linien des Carre's nicht mehr halten und wichen schrittweise langsam zurück nach uns zu. Ich gebot nun dem Scharfrichter mit einer Stimme, die sicherlich in den weitesten Ecken des „Ringes" vernehmlich war, den Staupenschlag zu vollziehen. Die sechs Knechte nahmen den Brandstifter in die Mitte und erhoben die Ruthen. Aber in dem Moment, wo der erste Schlag erfolgte, verging mir Hören und Sehen. Dragoner, Scharfrichter, Delinquent, Profoß und Knechte wurden meinen Blicken mit einer zauberhaften Schnelligkeit entrückt. Ich fand mich wenige Secunden später zwei Straßen vom Marktplatze entfernt. Bis dahin hatte mich ein stets wechselnder, um mich kreisender Volksknäuel förmlich getragen. Wie das geschah, kann ich heute noch nicht sagen; ich hatte nur bemerkt, wie ein dichter Volkshaufe sich zwischen mich und den Delin¬ quenten schob; das übrige war mir bei der haarsträubenden Schnelligkeit meiner Vorwärtswimmelung entgangen. Ich suchte pflichtgemäß natürlich nun zuerst wieder den Ring auf. Er war absolut menschenleer. Ich eilte nach dem Gerichtsgebäude. Hier fand ich meinen ganzen Zug wohlbehalten wieder; es fehlte nicht ein theures Haupt. Sämmtliche Mitglieder des Zugs waren mit derselben Schnelligkeit von der Menge nach dieser Richtung beför¬ dert worden, wie ich nach der entgegengesetzten. Ich begnügte mich mit dieser Erfahrung. Der Geist des neunzehnten Jahrhunderts hatte in der kräftigsten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/472
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/472>, abgerufen am 22.12.2024.