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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Blicke glitten, wie die meinen jetzt nur noch instinctiv über die Rückentitel der
alten schweinsledernen Folianten hin, die hier in unscheinbarer Außenhülle
uns weise entgegenschwiegen. Auf einmal rief mein Freund: "Hier, das ist
vielleicht was; Churbrandenburgische Halsgerichtsordnung von Anno 1600
und so und so viel." -- "Zeig her!" rief ich in fieberhafter Erregung. Wir
setzten uns an den nächsten Tisch; das unförmige Buch wurde aufgeklappt;
er suchte von vorn nach hinten, ich in umgekehrter Richtung nach "Staupen¬
schlag". Wir prallten in der Mitte mit einer Wuth aneinander, wie zwei
Eisenbahnschnellzüge, die das Unglück gegen einander führt. "Staupenschlag!"
rief's wie aus einem Munde. Hier stand wirklich und wahrhaftig geschrieben,
wie er vollzogen wurde. Wir wischten uns den Schweiß von der Stirn;
dann wurden die theuren Buchstaben langsam und mit dem freudigen Stolz
eingesogen, der einer so schwierigen und wichtigen wissenschaftlichen Entdeckung
geziemte. In das heutige Deutsch übersetzt, lautete diese Gesetzesstelle über
"Staupenschlag" etwa so: Allmonatlich solle des Verbrechers Oberkörper ent¬
kleidet, und er gefesselt auf offenem Markt von dem Scharfrichter und dessen
Knechten geführt, ihm hier das Urtheil verlesen werden, und er dann an allen
vier Himmelsrichtungen des Marktes mit Ruthen dreißig weniger einen Streich
von den Scharfrichterknechten erhalten. Wir lasen die Stelle so oft, bis wir
sie auswendig konnten. Wir wußten nun ganz genau, daß unser Brand¬
stifter aus dem Ring zu Breslau und zwar im Süden und Norden, Osten
und Westen je 29 Ruthenhiebe zu gewärtigen hatte. Ich nahm mir den köst¬
lichen Band mit nach Hause und lachte stillvergnügt vor mich hin. Wie
mich meine Freunde mit dem großen rothbroschirten schweinsledernen Folianten
unter dem Arm und den Scharfrichter und die Knechte hinter mir, den "Ring"
zu Breslau feierlich und vergnügt begehen sahen, um die Punkte für die Ere-
cution herauszusuchen, zweifelten sie an meinem Verstand, und sehr nachtheilige
Gerüchte über mich wurden in Umlauf gesetzt. Ganz Breslau raunte sich zu,
daß der "neue Richter" irgend eine tückische heimliche Procedur gegen einen
armen Teufel von Delinquenten vor habe. Ich hatte meinen Profoßen und
meinen Bibliothekar stark im Verdacht, daß sie der Verbreitung dieses Gerüchtes
nicht entgegen wirkten, und ich sah mich demgemäß vor.

Etwa Mitte Februar 1832 setzte sich vom Gerichtsgefängniß zu Breslau
aus, nach dem "Ring" zu, der streng nach der Vorschrift der churfürstlich
brandenburgischen peinlichen Halsgerichtsordnung zusammengesetzte Zug in
Bewegung, um'an meinem Brandstifter den "Staupenschlag" zu vollziehen.
Voran ritt ein Detachement Dragoner, dann kam der Scharfrichter in seinem
schauerlichen Amtscostüm, die Nase bei der ungewöhnlich heftigen Kälte so
roth wie sein Mantelfutter gefroren. Dann folgten zu Seiten des Delin¬
quenten je drei Scharfrichterknechte mit ellenlangem Ruthen unter dem linken


Blicke glitten, wie die meinen jetzt nur noch instinctiv über die Rückentitel der
alten schweinsledernen Folianten hin, die hier in unscheinbarer Außenhülle
uns weise entgegenschwiegen. Auf einmal rief mein Freund: „Hier, das ist
vielleicht was; Churbrandenburgische Halsgerichtsordnung von Anno 1600
und so und so viel." — „Zeig her!" rief ich in fieberhafter Erregung. Wir
setzten uns an den nächsten Tisch; das unförmige Buch wurde aufgeklappt;
er suchte von vorn nach hinten, ich in umgekehrter Richtung nach „Staupen¬
schlag". Wir prallten in der Mitte mit einer Wuth aneinander, wie zwei
Eisenbahnschnellzüge, die das Unglück gegen einander führt. „Staupenschlag!"
rief's wie aus einem Munde. Hier stand wirklich und wahrhaftig geschrieben,
wie er vollzogen wurde. Wir wischten uns den Schweiß von der Stirn;
dann wurden die theuren Buchstaben langsam und mit dem freudigen Stolz
eingesogen, der einer so schwierigen und wichtigen wissenschaftlichen Entdeckung
geziemte. In das heutige Deutsch übersetzt, lautete diese Gesetzesstelle über
„Staupenschlag" etwa so: Allmonatlich solle des Verbrechers Oberkörper ent¬
kleidet, und er gefesselt auf offenem Markt von dem Scharfrichter und dessen
Knechten geführt, ihm hier das Urtheil verlesen werden, und er dann an allen
vier Himmelsrichtungen des Marktes mit Ruthen dreißig weniger einen Streich
von den Scharfrichterknechten erhalten. Wir lasen die Stelle so oft, bis wir
sie auswendig konnten. Wir wußten nun ganz genau, daß unser Brand¬
stifter aus dem Ring zu Breslau und zwar im Süden und Norden, Osten
und Westen je 29 Ruthenhiebe zu gewärtigen hatte. Ich nahm mir den köst¬
lichen Band mit nach Hause und lachte stillvergnügt vor mich hin. Wie
mich meine Freunde mit dem großen rothbroschirten schweinsledernen Folianten
unter dem Arm und den Scharfrichter und die Knechte hinter mir, den „Ring"
zu Breslau feierlich und vergnügt begehen sahen, um die Punkte für die Ere-
cution herauszusuchen, zweifelten sie an meinem Verstand, und sehr nachtheilige
Gerüchte über mich wurden in Umlauf gesetzt. Ganz Breslau raunte sich zu,
daß der „neue Richter" irgend eine tückische heimliche Procedur gegen einen
armen Teufel von Delinquenten vor habe. Ich hatte meinen Profoßen und
meinen Bibliothekar stark im Verdacht, daß sie der Verbreitung dieses Gerüchtes
nicht entgegen wirkten, und ich sah mich demgemäß vor.

Etwa Mitte Februar 1832 setzte sich vom Gerichtsgefängniß zu Breslau
aus, nach dem „Ring" zu, der streng nach der Vorschrift der churfürstlich
brandenburgischen peinlichen Halsgerichtsordnung zusammengesetzte Zug in
Bewegung, um'an meinem Brandstifter den „Staupenschlag" zu vollziehen.
Voran ritt ein Detachement Dragoner, dann kam der Scharfrichter in seinem
schauerlichen Amtscostüm, die Nase bei der ungewöhnlich heftigen Kälte so
roth wie sein Mantelfutter gefroren. Dann folgten zu Seiten des Delin¬
quenten je drei Scharfrichterknechte mit ellenlangem Ruthen unter dem linken


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[0471] Blicke glitten, wie die meinen jetzt nur noch instinctiv über die Rückentitel der alten schweinsledernen Folianten hin, die hier in unscheinbarer Außenhülle uns weise entgegenschwiegen. Auf einmal rief mein Freund: „Hier, das ist vielleicht was; Churbrandenburgische Halsgerichtsordnung von Anno 1600 und so und so viel." — „Zeig her!" rief ich in fieberhafter Erregung. Wir setzten uns an den nächsten Tisch; das unförmige Buch wurde aufgeklappt; er suchte von vorn nach hinten, ich in umgekehrter Richtung nach „Staupen¬ schlag". Wir prallten in der Mitte mit einer Wuth aneinander, wie zwei Eisenbahnschnellzüge, die das Unglück gegen einander führt. „Staupenschlag!" rief's wie aus einem Munde. Hier stand wirklich und wahrhaftig geschrieben, wie er vollzogen wurde. Wir wischten uns den Schweiß von der Stirn; dann wurden die theuren Buchstaben langsam und mit dem freudigen Stolz eingesogen, der einer so schwierigen und wichtigen wissenschaftlichen Entdeckung geziemte. In das heutige Deutsch übersetzt, lautete diese Gesetzesstelle über „Staupenschlag" etwa so: Allmonatlich solle des Verbrechers Oberkörper ent¬ kleidet, und er gefesselt auf offenem Markt von dem Scharfrichter und dessen Knechten geführt, ihm hier das Urtheil verlesen werden, und er dann an allen vier Himmelsrichtungen des Marktes mit Ruthen dreißig weniger einen Streich von den Scharfrichterknechten erhalten. Wir lasen die Stelle so oft, bis wir sie auswendig konnten. Wir wußten nun ganz genau, daß unser Brand¬ stifter aus dem Ring zu Breslau und zwar im Süden und Norden, Osten und Westen je 29 Ruthenhiebe zu gewärtigen hatte. Ich nahm mir den köst¬ lichen Band mit nach Hause und lachte stillvergnügt vor mich hin. Wie mich meine Freunde mit dem großen rothbroschirten schweinsledernen Folianten unter dem Arm und den Scharfrichter und die Knechte hinter mir, den „Ring" zu Breslau feierlich und vergnügt begehen sahen, um die Punkte für die Ere- cution herauszusuchen, zweifelten sie an meinem Verstand, und sehr nachtheilige Gerüchte über mich wurden in Umlauf gesetzt. Ganz Breslau raunte sich zu, daß der „neue Richter" irgend eine tückische heimliche Procedur gegen einen armen Teufel von Delinquenten vor habe. Ich hatte meinen Profoßen und meinen Bibliothekar stark im Verdacht, daß sie der Verbreitung dieses Gerüchtes nicht entgegen wirkten, und ich sah mich demgemäß vor. Etwa Mitte Februar 1832 setzte sich vom Gerichtsgefängniß zu Breslau aus, nach dem „Ring" zu, der streng nach der Vorschrift der churfürstlich brandenburgischen peinlichen Halsgerichtsordnung zusammengesetzte Zug in Bewegung, um'an meinem Brandstifter den „Staupenschlag" zu vollziehen. Voran ritt ein Detachement Dragoner, dann kam der Scharfrichter in seinem schauerlichen Amtscostüm, die Nase bei der ungewöhnlich heftigen Kälte so roth wie sein Mantelfutter gefroren. Dann folgten zu Seiten des Delin¬ quenten je drei Scharfrichterknechte mit ellenlangem Ruthen unter dem linken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/471>, abgerufen am 25.08.2024.