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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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säumten, an ihrer Spitze den Degen zu ziehen. Am Abend des 28. Juli
hatten die Regimenter zwar nicht mehr als 400 Kampfunfähige, doch ihr Muth
und ihre Kampflust waren völlig dahin. Selbst Officiere der Garde weigerten
sich, ferner zu fechten und nahmen ihre Entlassung. Marmont gab bereits
alles verloren; er wollte aus Paris "kein zweites Saragossa" machen und
schickte einen Adjutanten nach Se. Cloud an den König mit einem Schreiben,
das in dringender Weise zur Nachgiebigkeit rieth. Indessen ging der Kampf
fort und die Zuverlässigkeit der Truppen sank von Stunde zu stunde. End¬
lich wurden zwei auf dem Vendomeplatz stehende Linienregimenter zum Abfall
gebracht; von unermeßlichen Volksjubel begrüßt, stellten sie sich unter die Befehle
des liberalen Generals Gorard. Marmont, bestrebt, die dadurch entstandene
Lücke seiner Stellung zu decken, zog aus einem Theil des Louvre die Schweizer
in den Hof; sofort drangen Menschenmassen in den Palast, und bald darauf
räumte Marmont die Stadt und der Kampf endete. Auf beiden Seiten
zählte man an 1000 Todte und 5000 Verwundete. -- Der Hof von Se.
Cloud begann zu unterhandeln. Noch immer an der Spitze von mehr als
10,000 Mann bot der König die Zurücknahme seiner Ordonnanzen, die Wi¬
derHerstellung der seit drei Jahren aufgelösten Nationalgarde und die Ernen¬
nung eines liberalen Cabinets mit Girard als Kriegsminister vergeblich an.
Seine Macht zerbröckelte. Regiment auf Regiment löste die Desertion auf;
die Garde selbst begann zu wanken; zwischen seinem Sohne und Marmont
kam es zu Thätlichkeiten. -- Nach Rambouillet gewichen, wo er die herbeige¬
rufenen Verstärkungen aus den Uebungslagern von Se. Omer und Luneville
zu erwarten dachte, sah der König unter seinen Augen ganze Regimenter das
Lager verlassen, während auf Befehl des rebellischen Herzogs von Orleans ein
"Pariser Heer", d. h. 20,000 Bummler ohne Spur soldatischer Haltung, zum
Theil in Miethwagen und Karren gegen ihn herangezogen kamen: nach La-
fayette's Ausdruck "die seltsamste und interessanteste Armee." General Vincent
war bereit, dies ganze wilde Heer mit einigen Kanonenschüssen und einem
entschlossenen Angriff auf Paris zurückzuwerfen. Auf sein Ehrenwort aber
gab Marschall Maison Charles X. jenes Heer auf 60,000 Mann an und
hiernach verzichtete der König auf jeglichen Widerstand, entließ den Rest seiner
Truppen und schiffte sich zu Cherbourg ein. -- Welch ein kläglicher Ausgang!
Welch eine Verkettung von Verrath, Untreue und Kleinmuth! -- Leichter
noch als zu Paris wichen die Truppen in den Provinzialstädten der Revolu¬
tion. In Algier wurde von Flotte und Heer die dreifarbige Fahne ohne
Zögern aufgepflanzt und der zum Marschall ernannte commandirende General
Bourmont mußte die Flucht ergreifen. Nur zu Nantes, wo die royalistisch
gesinnte untere Volksklasse gemeinsame Sache machte mit den Schweizertruppen


säumten, an ihrer Spitze den Degen zu ziehen. Am Abend des 28. Juli
hatten die Regimenter zwar nicht mehr als 400 Kampfunfähige, doch ihr Muth
und ihre Kampflust waren völlig dahin. Selbst Officiere der Garde weigerten
sich, ferner zu fechten und nahmen ihre Entlassung. Marmont gab bereits
alles verloren; er wollte aus Paris „kein zweites Saragossa" machen und
schickte einen Adjutanten nach Se. Cloud an den König mit einem Schreiben,
das in dringender Weise zur Nachgiebigkeit rieth. Indessen ging der Kampf
fort und die Zuverlässigkeit der Truppen sank von Stunde zu stunde. End¬
lich wurden zwei auf dem Vendomeplatz stehende Linienregimenter zum Abfall
gebracht; von unermeßlichen Volksjubel begrüßt, stellten sie sich unter die Befehle
des liberalen Generals Gorard. Marmont, bestrebt, die dadurch entstandene
Lücke seiner Stellung zu decken, zog aus einem Theil des Louvre die Schweizer
in den Hof; sofort drangen Menschenmassen in den Palast, und bald darauf
räumte Marmont die Stadt und der Kampf endete. Auf beiden Seiten
zählte man an 1000 Todte und 5000 Verwundete. — Der Hof von Se.
Cloud begann zu unterhandeln. Noch immer an der Spitze von mehr als
10,000 Mann bot der König die Zurücknahme seiner Ordonnanzen, die Wi¬
derHerstellung der seit drei Jahren aufgelösten Nationalgarde und die Ernen¬
nung eines liberalen Cabinets mit Girard als Kriegsminister vergeblich an.
Seine Macht zerbröckelte. Regiment auf Regiment löste die Desertion auf;
die Garde selbst begann zu wanken; zwischen seinem Sohne und Marmont
kam es zu Thätlichkeiten. — Nach Rambouillet gewichen, wo er die herbeige¬
rufenen Verstärkungen aus den Uebungslagern von Se. Omer und Luneville
zu erwarten dachte, sah der König unter seinen Augen ganze Regimenter das
Lager verlassen, während auf Befehl des rebellischen Herzogs von Orleans ein
„Pariser Heer", d. h. 20,000 Bummler ohne Spur soldatischer Haltung, zum
Theil in Miethwagen und Karren gegen ihn herangezogen kamen: nach La-
fayette's Ausdruck „die seltsamste und interessanteste Armee." General Vincent
war bereit, dies ganze wilde Heer mit einigen Kanonenschüssen und einem
entschlossenen Angriff auf Paris zurückzuwerfen. Auf sein Ehrenwort aber
gab Marschall Maison Charles X. jenes Heer auf 60,000 Mann an und
hiernach verzichtete der König auf jeglichen Widerstand, entließ den Rest seiner
Truppen und schiffte sich zu Cherbourg ein. — Welch ein kläglicher Ausgang!
Welch eine Verkettung von Verrath, Untreue und Kleinmuth! — Leichter
noch als zu Paris wichen die Truppen in den Provinzialstädten der Revolu¬
tion. In Algier wurde von Flotte und Heer die dreifarbige Fahne ohne
Zögern aufgepflanzt und der zum Marschall ernannte commandirende General
Bourmont mußte die Flucht ergreifen. Nur zu Nantes, wo die royalistisch
gesinnte untere Volksklasse gemeinsame Sache machte mit den Schweizertruppen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/453>, abgerufen am 22.12.2024.