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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Was Louis' XVIII. gelungen war, das wollte nun auch Charles X. ver¬
suchen: die Ableitung inneren Zündstoffes nach Außen. Am 7. Februar 1830
wurde auf Andringen Bourmont's und Marmont's, welche beide auf den Ober¬
befehl rechneten, der Krieg gegen Algier beschlossen. Bourmont erhielt
das Commando, während der Herzog von Ragusa sich mit einer runden
Summe aus der Kriegseasse für die Vortheile abfinden lassen mußte, die er
von dem Commando in Afrika für sich und seine unzähligen Gläubiger er¬
hofft hatte. *) -- Eine Flotte, wie sie Frankreich seit Buonaparte's Zug nach
Egypten nicht mehr gesehen, ging mit 30,000 Mann Landungstruppen nach
Afrika unter Segel. -- Am 9. Juli brachte der Telegraph die Nachricht von
der Eroberung Algiers nach Paris, und unter dem Eindruck dieses Erfolges
wagte man die Verkündigung der berühmten Juli-Ordonnanzen.

General Bourmont hatte seinen ministeriellen Collegen beim Abgänge nach
Afrika dringend ans Herz gelegt, keinen entscheidenden Schritt vor seiner Rück¬
kehr zu thun. Fürst Polignac jedoch, welcher das Kriegsministerium interi¬
mistisch mit übernommen, glaubte sich hinreichend gerüstet. Aber er täuschte
sich. Allerdings belief sich der Nominalstand des Heeres auf 240.000 Mann.
Davon waren indeß einige dreißigtausend in Algier, vierzig- bis funfzigtausend
aus Ersparnißrücksichten beurlaubt; 10,000 Mann standen als Kriegsreserve
in Toulon, 14,000 Mann in den Uebungslagern bei Se. Omer und Lune-
ville; nicht mehr als 130,000 Mann blieben in den Garnisonen zu unmittel¬
barem polizeilichem Eingreifen verfügbar und von diesen befanden sich in
Paris und Umgegend nur 15 bis 16 Tausend. Auf diese aber glaubte man
rechnen zu können, da sie erst seit anderthalb Monaten in der Hauptstadt
lagen und wol noch nicht Zeit gehabt hatten, mit der Bevölkerung zu fra-
ternisiren, und daher versäumte man es, die Truppen der Uebungslager her¬
anzuziehen, von denen doch namentlich die bei Se. Omer bequem genug zu
erreiche gewesen wären. -- Dies war die militärische Lage beim Ausbruche
der Juli-Revolution. Verschlimmert wurde dieselbe durch die sorglose
und nachlässige Haltung der Regierung gegenüber der Pariser Garnison in
den ersten Stadien des Aufstandes und durch das laue Wesen Marmont's,
der mit dem Commando betraut war. Statt Artillerie aus Vincennes und
was von Truppen sonst noch aufzutreiben war, heranzuziehen, that der ver¬
drossene Herzog von Ragusa nichts, obgleich alle Anzeichen auf einen Schlacht¬
tag deuteten. Die Linien-Regimenter kehrten von Anfang an mit sichtbarem
Widerstreben ihre Waffen gegen die Pariser, die Garden hielten sich besser
und die Schweizer untadelig; auf alle Truppen aber machte es einen peinlichen
Eindruck, daß die Bourbons auch in diesem verhängnißvollen Augenblick ver-



") v. Rochen a. a. O. -- Gewiß ein Zeichen der Zeit von befremdender Naivetät!

Was Louis' XVIII. gelungen war, das wollte nun auch Charles X. ver¬
suchen: die Ableitung inneren Zündstoffes nach Außen. Am 7. Februar 1830
wurde auf Andringen Bourmont's und Marmont's, welche beide auf den Ober¬
befehl rechneten, der Krieg gegen Algier beschlossen. Bourmont erhielt
das Commando, während der Herzog von Ragusa sich mit einer runden
Summe aus der Kriegseasse für die Vortheile abfinden lassen mußte, die er
von dem Commando in Afrika für sich und seine unzähligen Gläubiger er¬
hofft hatte. *) — Eine Flotte, wie sie Frankreich seit Buonaparte's Zug nach
Egypten nicht mehr gesehen, ging mit 30,000 Mann Landungstruppen nach
Afrika unter Segel. — Am 9. Juli brachte der Telegraph die Nachricht von
der Eroberung Algiers nach Paris, und unter dem Eindruck dieses Erfolges
wagte man die Verkündigung der berühmten Juli-Ordonnanzen.

General Bourmont hatte seinen ministeriellen Collegen beim Abgänge nach
Afrika dringend ans Herz gelegt, keinen entscheidenden Schritt vor seiner Rück¬
kehr zu thun. Fürst Polignac jedoch, welcher das Kriegsministerium interi¬
mistisch mit übernommen, glaubte sich hinreichend gerüstet. Aber er täuschte
sich. Allerdings belief sich der Nominalstand des Heeres auf 240.000 Mann.
Davon waren indeß einige dreißigtausend in Algier, vierzig- bis funfzigtausend
aus Ersparnißrücksichten beurlaubt; 10,000 Mann standen als Kriegsreserve
in Toulon, 14,000 Mann in den Uebungslagern bei Se. Omer und Lune-
ville; nicht mehr als 130,000 Mann blieben in den Garnisonen zu unmittel¬
barem polizeilichem Eingreifen verfügbar und von diesen befanden sich in
Paris und Umgegend nur 15 bis 16 Tausend. Auf diese aber glaubte man
rechnen zu können, da sie erst seit anderthalb Monaten in der Hauptstadt
lagen und wol noch nicht Zeit gehabt hatten, mit der Bevölkerung zu fra-
ternisiren, und daher versäumte man es, die Truppen der Uebungslager her¬
anzuziehen, von denen doch namentlich die bei Se. Omer bequem genug zu
erreiche gewesen wären. — Dies war die militärische Lage beim Ausbruche
der Juli-Revolution. Verschlimmert wurde dieselbe durch die sorglose
und nachlässige Haltung der Regierung gegenüber der Pariser Garnison in
den ersten Stadien des Aufstandes und durch das laue Wesen Marmont's,
der mit dem Commando betraut war. Statt Artillerie aus Vincennes und
was von Truppen sonst noch aufzutreiben war, heranzuziehen, that der ver¬
drossene Herzog von Ragusa nichts, obgleich alle Anzeichen auf einen Schlacht¬
tag deuteten. Die Linien-Regimenter kehrten von Anfang an mit sichtbarem
Widerstreben ihre Waffen gegen die Pariser, die Garden hielten sich besser
und die Schweizer untadelig; auf alle Truppen aber machte es einen peinlichen
Eindruck, daß die Bourbons auch in diesem verhängnißvollen Augenblick ver-



") v. Rochen a. a. O. — Gewiß ein Zeichen der Zeit von befremdender Naivetät!
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[0452] Was Louis' XVIII. gelungen war, das wollte nun auch Charles X. ver¬ suchen: die Ableitung inneren Zündstoffes nach Außen. Am 7. Februar 1830 wurde auf Andringen Bourmont's und Marmont's, welche beide auf den Ober¬ befehl rechneten, der Krieg gegen Algier beschlossen. Bourmont erhielt das Commando, während der Herzog von Ragusa sich mit einer runden Summe aus der Kriegseasse für die Vortheile abfinden lassen mußte, die er von dem Commando in Afrika für sich und seine unzähligen Gläubiger er¬ hofft hatte. *) — Eine Flotte, wie sie Frankreich seit Buonaparte's Zug nach Egypten nicht mehr gesehen, ging mit 30,000 Mann Landungstruppen nach Afrika unter Segel. — Am 9. Juli brachte der Telegraph die Nachricht von der Eroberung Algiers nach Paris, und unter dem Eindruck dieses Erfolges wagte man die Verkündigung der berühmten Juli-Ordonnanzen. General Bourmont hatte seinen ministeriellen Collegen beim Abgänge nach Afrika dringend ans Herz gelegt, keinen entscheidenden Schritt vor seiner Rück¬ kehr zu thun. Fürst Polignac jedoch, welcher das Kriegsministerium interi¬ mistisch mit übernommen, glaubte sich hinreichend gerüstet. Aber er täuschte sich. Allerdings belief sich der Nominalstand des Heeres auf 240.000 Mann. Davon waren indeß einige dreißigtausend in Algier, vierzig- bis funfzigtausend aus Ersparnißrücksichten beurlaubt; 10,000 Mann standen als Kriegsreserve in Toulon, 14,000 Mann in den Uebungslagern bei Se. Omer und Lune- ville; nicht mehr als 130,000 Mann blieben in den Garnisonen zu unmittel¬ barem polizeilichem Eingreifen verfügbar und von diesen befanden sich in Paris und Umgegend nur 15 bis 16 Tausend. Auf diese aber glaubte man rechnen zu können, da sie erst seit anderthalb Monaten in der Hauptstadt lagen und wol noch nicht Zeit gehabt hatten, mit der Bevölkerung zu fra- ternisiren, und daher versäumte man es, die Truppen der Uebungslager her¬ anzuziehen, von denen doch namentlich die bei Se. Omer bequem genug zu erreiche gewesen wären. — Dies war die militärische Lage beim Ausbruche der Juli-Revolution. Verschlimmert wurde dieselbe durch die sorglose und nachlässige Haltung der Regierung gegenüber der Pariser Garnison in den ersten Stadien des Aufstandes und durch das laue Wesen Marmont's, der mit dem Commando betraut war. Statt Artillerie aus Vincennes und was von Truppen sonst noch aufzutreiben war, heranzuziehen, that der ver¬ drossene Herzog von Ragusa nichts, obgleich alle Anzeichen auf einen Schlacht¬ tag deuteten. Die Linien-Regimenter kehrten von Anfang an mit sichtbarem Widerstreben ihre Waffen gegen die Pariser, die Garden hielten sich besser und die Schweizer untadelig; auf alle Truppen aber machte es einen peinlichen Eindruck, daß die Bourbons auch in diesem verhängnißvollen Augenblick ver- ") v. Rochen a. a. O. — Gewiß ein Zeichen der Zeit von befremdender Naivetät!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/452>, abgerufen am 22.12.2024.