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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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mit Freiheit und Entschiedenheit die Bahnen vorzuzeichnen, welche einzuschlagen
waren. Bis zu einem nicht geringen Grade besaß Gouvion Saint-Cyr
diesen Muth. Streng zu allen Zeiten, unter dem Kaiserreich liberal und da¬
her von Napoleon nicht eben gern gesehen, konnte er jetzt, ohne mit seiner
Vergangenheit zu brechen, auf die konstitutionellen Anschauungen eingehen und
zugleich lebhafte Sympathie für seine alten Kampfgenossen bekunden. Ge-
wöhnt, die Chancen eines Kampfes kaltblütig zu wägen, entfernte er die Hin¬
dernisse, von denen er sich umgeben sah, mit derselben stillen und scharfsich¬
tigen Ruhe, die ihn auf dem Schlachtfelde beseelte, und bereitete so das Ge¬
setz vom Jahre 1818 vor, von dem gesagt worden ist, "qu'on xourralt eure
inLpireö par 1s gsuiiz av ig, ^i-ane", eoiumv I"z tut pg,r un visu, si I'on
croit Vösöeo, l'institution ä" la, lögion romains."^') -- Saint-Cyr gewann
seinem Gesetz die Anerkennung des Königs und legte es den Kammern vor.
"Lpeetaelö uniqus äans I'Iiistoirö an mouclö, rief er bei dieser Gelegenheit
pathetisch aus, Huc celui ä'un gouvernemont national 6t libriz äiseutaut hö.
doree et sou s^stone! miliwirs en presviieL "les in-meos 6<z I'I^ni-oxö, <^ni
resiäönt sneor" sur sou territoirsl" -- Seit den Heeres-Debatten der Ver-
sailler Nationalversammlung im Jahre 1872 ist dies Schauspiel allerdings
nicht mehr unique; an Stelle der "Armeen Europas" wohnten freilich nur
vier deutsche Divisionen jenen Berathungen bei.

Die Gesetzesvorlage Saint-Cyr's war eins vollständiges System. Sie be¬
stimmte nicht nur die Art der Recrutirung, sondern auch die Heeresstärke, die
Zusammensetzung der Reserve und die Regeln des Avancements.

Der erste Artikel war eine Art redactionelles Kunststück. Die allgemeine
Stimme und die Versprechungen Louis' XVIII. verboten es, das Wort "cou-
Ld'ixtion" auszusprechen. So wurde denn das freiwillige Engagement
als Hauptelement der Recrutirung hingestellt, der "Appell" nur als Aus¬
hülfsmittel. Dieser Appell war aber ganz genau dasselbe wie die Conscription
und unterschied sich nicht einmal quantitativ von derselben, wenn man nicht
die ungeheueren Massenforderungen der letzten napoleonischen Zeit als Norm
annehmen will. -- Der Friedensstand, von der Regierung auf 160,000 Mann
vorgeschlagen, wurde Seitens der Kammer auf 240,000 Mann festgestellt und
sollte durch jährliche Aushebungen ergänzt werden, welche die Zahl von
40,000 Mann nicht überschreiten sollten. Dies Contingent wurde auf die
Departements, Arrondissements und Cantons nach der Einwohnerzahl vertheilt
und durch Losung unter den Zwanzigjährigen festgestellt. (Minimalgröße
1'" 57.) Ausnahmen und Dispense waren bestimmt und ziemlich freigebig
geregelt und zur Entscheidung einem Revisionshofe zugewiesen. Alle Enga-



viseours an xöllvi'"! Rio-U'ä. 1824.

mit Freiheit und Entschiedenheit die Bahnen vorzuzeichnen, welche einzuschlagen
waren. Bis zu einem nicht geringen Grade besaß Gouvion Saint-Cyr
diesen Muth. Streng zu allen Zeiten, unter dem Kaiserreich liberal und da¬
her von Napoleon nicht eben gern gesehen, konnte er jetzt, ohne mit seiner
Vergangenheit zu brechen, auf die konstitutionellen Anschauungen eingehen und
zugleich lebhafte Sympathie für seine alten Kampfgenossen bekunden. Ge-
wöhnt, die Chancen eines Kampfes kaltblütig zu wägen, entfernte er die Hin¬
dernisse, von denen er sich umgeben sah, mit derselben stillen und scharfsich¬
tigen Ruhe, die ihn auf dem Schlachtfelde beseelte, und bereitete so das Ge¬
setz vom Jahre 1818 vor, von dem gesagt worden ist, „qu'on xourralt eure
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seinem Gesetz die Anerkennung des Königs und legte es den Kammern vor.
„Lpeetaelö uniqus äans I'Iiistoirö an mouclö, rief er bei dieser Gelegenheit
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resiäönt sneor« sur sou territoirsl" — Seit den Heeres-Debatten der Ver-
sailler Nationalversammlung im Jahre 1872 ist dies Schauspiel allerdings
nicht mehr unique; an Stelle der „Armeen Europas" wohnten freilich nur
vier deutsche Divisionen jenen Berathungen bei.

Die Gesetzesvorlage Saint-Cyr's war eins vollständiges System. Sie be¬
stimmte nicht nur die Art der Recrutirung, sondern auch die Heeresstärke, die
Zusammensetzung der Reserve und die Regeln des Avancements.

Der erste Artikel war eine Art redactionelles Kunststück. Die allgemeine
Stimme und die Versprechungen Louis' XVIII. verboten es, das Wort „cou-
Ld'ixtion" auszusprechen. So wurde denn das freiwillige Engagement
als Hauptelement der Recrutirung hingestellt, der „Appell" nur als Aus¬
hülfsmittel. Dieser Appell war aber ganz genau dasselbe wie die Conscription
und unterschied sich nicht einmal quantitativ von derselben, wenn man nicht
die ungeheueren Massenforderungen der letzten napoleonischen Zeit als Norm
annehmen will. — Der Friedensstand, von der Regierung auf 160,000 Mann
vorgeschlagen, wurde Seitens der Kammer auf 240,000 Mann festgestellt und
sollte durch jährliche Aushebungen ergänzt werden, welche die Zahl von
40,000 Mann nicht überschreiten sollten. Dies Contingent wurde auf die
Departements, Arrondissements und Cantons nach der Einwohnerzahl vertheilt
und durch Losung unter den Zwanzigjährigen festgestellt. (Minimalgröße
1'" 57.) Ausnahmen und Dispense waren bestimmt und ziemlich freigebig
geregelt und zur Entscheidung einem Revisionshofe zugewiesen. Alle Enga-



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[0443] mit Freiheit und Entschiedenheit die Bahnen vorzuzeichnen, welche einzuschlagen waren. Bis zu einem nicht geringen Grade besaß Gouvion Saint-Cyr diesen Muth. Streng zu allen Zeiten, unter dem Kaiserreich liberal und da¬ her von Napoleon nicht eben gern gesehen, konnte er jetzt, ohne mit seiner Vergangenheit zu brechen, auf die konstitutionellen Anschauungen eingehen und zugleich lebhafte Sympathie für seine alten Kampfgenossen bekunden. Ge- wöhnt, die Chancen eines Kampfes kaltblütig zu wägen, entfernte er die Hin¬ dernisse, von denen er sich umgeben sah, mit derselben stillen und scharfsich¬ tigen Ruhe, die ihn auf dem Schlachtfelde beseelte, und bereitete so das Ge¬ setz vom Jahre 1818 vor, von dem gesagt worden ist, „qu'on xourralt eure inLpireö par 1s gsuiiz av ig, ^i-ane«, eoiumv I«z tut pg,r un visu, si I'on croit Vösöeo, l'institution ä« la, lögion romains."^') — Saint-Cyr gewann seinem Gesetz die Anerkennung des Königs und legte es den Kammern vor. „Lpeetaelö uniqus äans I'Iiistoirö an mouclö, rief er bei dieser Gelegenheit pathetisch aus, Huc celui ä'un gouvernemont national 6t libriz äiseutaut hö. doree et sou s^stone! miliwirs en presviieL «les in-meos 6<z I'I^ni-oxö, <^ni resiäönt sneor« sur sou territoirsl" — Seit den Heeres-Debatten der Ver- sailler Nationalversammlung im Jahre 1872 ist dies Schauspiel allerdings nicht mehr unique; an Stelle der „Armeen Europas" wohnten freilich nur vier deutsche Divisionen jenen Berathungen bei. Die Gesetzesvorlage Saint-Cyr's war eins vollständiges System. Sie be¬ stimmte nicht nur die Art der Recrutirung, sondern auch die Heeresstärke, die Zusammensetzung der Reserve und die Regeln des Avancements. Der erste Artikel war eine Art redactionelles Kunststück. Die allgemeine Stimme und die Versprechungen Louis' XVIII. verboten es, das Wort „cou- Ld'ixtion" auszusprechen. So wurde denn das freiwillige Engagement als Hauptelement der Recrutirung hingestellt, der „Appell" nur als Aus¬ hülfsmittel. Dieser Appell war aber ganz genau dasselbe wie die Conscription und unterschied sich nicht einmal quantitativ von derselben, wenn man nicht die ungeheueren Massenforderungen der letzten napoleonischen Zeit als Norm annehmen will. — Der Friedensstand, von der Regierung auf 160,000 Mann vorgeschlagen, wurde Seitens der Kammer auf 240,000 Mann festgestellt und sollte durch jährliche Aushebungen ergänzt werden, welche die Zahl von 40,000 Mann nicht überschreiten sollten. Dies Contingent wurde auf die Departements, Arrondissements und Cantons nach der Einwohnerzahl vertheilt und durch Losung unter den Zwanzigjährigen festgestellt. (Minimalgröße 1'" 57.) Ausnahmen und Dispense waren bestimmt und ziemlich freigebig geregelt und zur Entscheidung einem Revisionshofe zugewiesen. Alle Enga- viseours an xöllvi'»! Rio-U'ä. 1824.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/443>, abgerufen am 25.08.2024.