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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Ungarn gar nicht eintreten könne. Man ruft zu diesem Zweck in englischen
Blättern franzosenfreundlicher Richtung sogar den Exkaiser Napoleon III.
auf die Bühne. Er muß zum Orakel werden und das Dogma verkünden,
in dem jetzt die ganze Aufrichtung französischer Herzen enthalten ist, das
Dogma von der Unmöglichkeit wirklicher Eintracht zwischen Rußland und den
deutschen Großmächten.

Hält dieses Dogma wohl eine ruhige Prüfung aus? Seit dem Jahre
181S ist das Zusammengehen Preußens und Rußlands eines der einflußreichsten
Momente der europäischen Politik gewesen. Es gab Zeiten, wo Rußland
unter Nicolaus I. dem Aufstreben Preußens in herrischer Weise Halt gebot.
Die russische Reichskanzlei wird von den Erfolgen Preußens seit 1864 auch
nicht erbaut gewesen sein. Seit wann liebt es der Mächtige, daß ein kleiner
Nachbar ihm ebenbürtig wird? Aber hat die russische Politik deshalb Ursache,
in ruhiger Erwägung der Interessen ihres Reiches Frankreichs Verbündeter
gegen Deutschland zu werden? Macchiavell sagt freilich: "sei deines Nachbarn
Freund, vor allem aber Freund dem Nachbar deines Nachbars." Das wäre
ja ein Recept, wie es die Franzosen der russischen Staatskunst ersehnen.

Man muß aber bei den Recepten die Natur des jedesmaligen Patienten
beachten. Rußland hat viel, unermeßlich viel zu thun auf der asiatischen und
südeuropäischen Linie seiner Aktionssphäre. Am meisten aber hat es im eignen
Innern zu thun. Daß die westeuropäische Linie mit kaum nennenswerthen
Unterbrechungen die ruhige, wenn man will die todte Seite seiner Aktion seit
nahezu sechszig Jahren gebildet hat, daraus allein hat Rußland die Fähig¬
keit aller Erfolge auf denjenigen Operationslinien geschöpft, wo es dauernden
Gewinn überhaupt nur erlangen kann. Die westeuropäische Linie zur Haupt¬
aktionslinie machen, bedeutet für Rußland nicht nur ein hoffnungsloses Unter¬
nehmen, sondern den Sturz in unheilbare Schwäche und Zerrüttung durch
Ueberanstrengung. Weit genauer wohl, als die französische Unbedachtsamkeit
sich träumen lassen mag, wird diese Thatsache in Rußland von allen Persön¬
lichkeiten geschätzt, deren Erfahrung und Urtheil heute und noch auf Menschen¬
alter hinaus von Gewicht ist.

Wenn das Erscheinen des russischen Kaisers bei so feierlicher Gelegenheit
ein neuer Beweis nach so vielen bereits vorausgegangenen Beweisen ist, mit
wie aufrichtigem Beifall Alexander II. die persönlichen Erfolge seines Oheims
und die Consolidation Deutschlands begleitet, so läßt sich mit weit größerem
Schein freilich der Zweifel erheben, ob die Begegnung der Monarchen denn
auch den Zwiespalt der orientalischen Interessen Oestreichs und Rußlands
ausgleichen könne oder gar seine Ausgleichung zur Voraussetzung habe.

Die orientalische Politik ist lange Zeit fanatisch türkenfreundlich und
conservativ gewesen. Metternich's allgemein konservative Neigung vereinigte


Ungarn gar nicht eintreten könne. Man ruft zu diesem Zweck in englischen
Blättern franzosenfreundlicher Richtung sogar den Exkaiser Napoleon III.
auf die Bühne. Er muß zum Orakel werden und das Dogma verkünden,
in dem jetzt die ganze Aufrichtung französischer Herzen enthalten ist, das
Dogma von der Unmöglichkeit wirklicher Eintracht zwischen Rußland und den
deutschen Großmächten.

Hält dieses Dogma wohl eine ruhige Prüfung aus? Seit dem Jahre
181S ist das Zusammengehen Preußens und Rußlands eines der einflußreichsten
Momente der europäischen Politik gewesen. Es gab Zeiten, wo Rußland
unter Nicolaus I. dem Aufstreben Preußens in herrischer Weise Halt gebot.
Die russische Reichskanzlei wird von den Erfolgen Preußens seit 1864 auch
nicht erbaut gewesen sein. Seit wann liebt es der Mächtige, daß ein kleiner
Nachbar ihm ebenbürtig wird? Aber hat die russische Politik deshalb Ursache,
in ruhiger Erwägung der Interessen ihres Reiches Frankreichs Verbündeter
gegen Deutschland zu werden? Macchiavell sagt freilich: „sei deines Nachbarn
Freund, vor allem aber Freund dem Nachbar deines Nachbars." Das wäre
ja ein Recept, wie es die Franzosen der russischen Staatskunst ersehnen.

Man muß aber bei den Recepten die Natur des jedesmaligen Patienten
beachten. Rußland hat viel, unermeßlich viel zu thun auf der asiatischen und
südeuropäischen Linie seiner Aktionssphäre. Am meisten aber hat es im eignen
Innern zu thun. Daß die westeuropäische Linie mit kaum nennenswerthen
Unterbrechungen die ruhige, wenn man will die todte Seite seiner Aktion seit
nahezu sechszig Jahren gebildet hat, daraus allein hat Rußland die Fähig¬
keit aller Erfolge auf denjenigen Operationslinien geschöpft, wo es dauernden
Gewinn überhaupt nur erlangen kann. Die westeuropäische Linie zur Haupt¬
aktionslinie machen, bedeutet für Rußland nicht nur ein hoffnungsloses Unter¬
nehmen, sondern den Sturz in unheilbare Schwäche und Zerrüttung durch
Ueberanstrengung. Weit genauer wohl, als die französische Unbedachtsamkeit
sich träumen lassen mag, wird diese Thatsache in Rußland von allen Persön¬
lichkeiten geschätzt, deren Erfahrung und Urtheil heute und noch auf Menschen¬
alter hinaus von Gewicht ist.

Wenn das Erscheinen des russischen Kaisers bei so feierlicher Gelegenheit
ein neuer Beweis nach so vielen bereits vorausgegangenen Beweisen ist, mit
wie aufrichtigem Beifall Alexander II. die persönlichen Erfolge seines Oheims
und die Consolidation Deutschlands begleitet, so läßt sich mit weit größerem
Schein freilich der Zweifel erheben, ob die Begegnung der Monarchen denn
auch den Zwiespalt der orientalischen Interessen Oestreichs und Rußlands
ausgleichen könne oder gar seine Ausgleichung zur Voraussetzung habe.

Die orientalische Politik ist lange Zeit fanatisch türkenfreundlich und
conservativ gewesen. Metternich's allgemein konservative Neigung vereinigte


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[0438] Ungarn gar nicht eintreten könne. Man ruft zu diesem Zweck in englischen Blättern franzosenfreundlicher Richtung sogar den Exkaiser Napoleon III. auf die Bühne. Er muß zum Orakel werden und das Dogma verkünden, in dem jetzt die ganze Aufrichtung französischer Herzen enthalten ist, das Dogma von der Unmöglichkeit wirklicher Eintracht zwischen Rußland und den deutschen Großmächten. Hält dieses Dogma wohl eine ruhige Prüfung aus? Seit dem Jahre 181S ist das Zusammengehen Preußens und Rußlands eines der einflußreichsten Momente der europäischen Politik gewesen. Es gab Zeiten, wo Rußland unter Nicolaus I. dem Aufstreben Preußens in herrischer Weise Halt gebot. Die russische Reichskanzlei wird von den Erfolgen Preußens seit 1864 auch nicht erbaut gewesen sein. Seit wann liebt es der Mächtige, daß ein kleiner Nachbar ihm ebenbürtig wird? Aber hat die russische Politik deshalb Ursache, in ruhiger Erwägung der Interessen ihres Reiches Frankreichs Verbündeter gegen Deutschland zu werden? Macchiavell sagt freilich: „sei deines Nachbarn Freund, vor allem aber Freund dem Nachbar deines Nachbars." Das wäre ja ein Recept, wie es die Franzosen der russischen Staatskunst ersehnen. Man muß aber bei den Recepten die Natur des jedesmaligen Patienten beachten. Rußland hat viel, unermeßlich viel zu thun auf der asiatischen und südeuropäischen Linie seiner Aktionssphäre. Am meisten aber hat es im eignen Innern zu thun. Daß die westeuropäische Linie mit kaum nennenswerthen Unterbrechungen die ruhige, wenn man will die todte Seite seiner Aktion seit nahezu sechszig Jahren gebildet hat, daraus allein hat Rußland die Fähig¬ keit aller Erfolge auf denjenigen Operationslinien geschöpft, wo es dauernden Gewinn überhaupt nur erlangen kann. Die westeuropäische Linie zur Haupt¬ aktionslinie machen, bedeutet für Rußland nicht nur ein hoffnungsloses Unter¬ nehmen, sondern den Sturz in unheilbare Schwäche und Zerrüttung durch Ueberanstrengung. Weit genauer wohl, als die französische Unbedachtsamkeit sich träumen lassen mag, wird diese Thatsache in Rußland von allen Persön¬ lichkeiten geschätzt, deren Erfahrung und Urtheil heute und noch auf Menschen¬ alter hinaus von Gewicht ist. Wenn das Erscheinen des russischen Kaisers bei so feierlicher Gelegenheit ein neuer Beweis nach so vielen bereits vorausgegangenen Beweisen ist, mit wie aufrichtigem Beifall Alexander II. die persönlichen Erfolge seines Oheims und die Consolidation Deutschlands begleitet, so läßt sich mit weit größerem Schein freilich der Zweifel erheben, ob die Begegnung der Monarchen denn auch den Zwiespalt der orientalischen Interessen Oestreichs und Rußlands ausgleichen könne oder gar seine Ausgleichung zur Voraussetzung habe. Die orientalische Politik ist lange Zeit fanatisch türkenfreundlich und conservativ gewesen. Metternich's allgemein konservative Neigung vereinigte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/438>, abgerufen am 22.07.2024.