Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.Bahn zu durchkreuzen! Von unserer palastreichen Czarenstadt an der Newa Bahn zu durchkreuzen! Von unserer palastreichen Czarenstadt an der Newa <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0436" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128364"/> <p xml:id="ID_1482" prev="#ID_1481" next="#ID_1483"> Bahn zu durchkreuzen! Von unserer palastreichen Czarenstadt an der Newa<lb/> bis Petropawlowsk einer der fernsten Kosakenstädte im Osten, in Kamtschatka<lb/> gelegen, braucht der kaiserliche Courier volle drei Monate um an Ort und<lb/> Stelle zu gelangen. Rußland, das über zweimal so groß als ganz Europa<lb/> ist, könnte eine Welt für sich bilden; hat es doch Gubernien, wie z. B. Archangelsk<lb/> mit 14,000 Quadratmeilen, in denen ganz Deutschland bequem stecken könnte<lb/> und dann noch ein Raum übrig bliebe um ein paar Königreiche Bayern<lb/> daraus zu machen. Aber so imposant diese Zahlen auch aussehen, man darf<lb/> sich durch dieselben nicht täuschen lassen, entfallen in dem weiten Reiche doch<lb/> nur wenig mehr als 200 Seelen auf die Quadratmeile, während in Deutsch¬<lb/> land über 4000, in Großbritannien über 5000 auf dem gleich großen Raume<lb/> wohnen. Daher kommt es auch, daß das Land nur vier Städte von mehr<lb/> als 100,000 Einwohnern (Petersburg. Moskau, Warschau, Odessa) und im<lb/> ganzen 15 Städte mit mehr als 60,000 Einwohnern zählt. Das vierzigmal<lb/> kleinere Deutschland aber besitzt 10 Städte mit mehr als 100,000 Einwohnern<lb/> und 30 Städte, die über 50.000 Seelen zählen! Zeigen diese wenigen Zahlen<lb/> schon an, wie Rußland trotz aller Fortschritte doch immer noch vielfach anders<lb/> ist, wie die West- und mitteleuropäischen Staaten, so wird dieses noch augen¬<lb/> scheinlicher, wenn wir einige wesentliche Verhältnisse unsres Reichs betrachten.<lb/> In keinem europäischen Staate z. B. hat die Statistik der einzelnen Stände<lb/> eine solche Bedeutung wie in Rußland. Officiell werden zwar, wie überall<lb/> in Europa nur vier Stände, der Adel, Klerus, Bürger- und Bauernstand<lb/> angenommen, aber in jedem dieser Stände giebt es zahlreiche und scharf von<lb/> einander getrennte Gruppen, welche, wie beim Priesterstande, von einer Art<lb/> Kastengeist durchweht sind. Ueberdies muß noch bemerkt werden, daß gerade<lb/> die zwei wichtigsten Elemente in Rußland, der nicht ursprünglich russische<lb/> Bürger- und der Bauernstand, sich in einer Uebergangsperiode ihrer Ent¬<lb/> wicklung befinden. Hierzu tritt noch eine enorme und sociale Verschiedenheit<lb/> aller vier Stände in den einzelnen größeren Theilen des Reichs, welche ehe¬<lb/> mals ein selbstständiges staatliches und nationales Leben führten; außerdem<lb/> darf nicht übersehen werden, daß bei den zahlreichen Nomadenvölkern, welche<lb/> Rußland beherbergt, die Ständeunterschiede noch gar nicht zur Entfaltung<lb/> kamen und bei vielen nie sich entfalten werden. Nichts ergibt aber einen<lb/> besseren Einblick in die Verschiedenheit Rußlands von den übrigen europäischen<lb/> Ländern, als seine Ständestatistik. Der Adel jeden Grades steht da mit 1^2<lb/> Procent der Bevölkerung an der Spitze; auf die Geistlichkeit entfällt beinahe<lb/> 1 Procent; Bürger im allerweitesten Sinne haben wir nur 8V2 Procent<lb/> gegenüber den 40 und 50 Procent in West- und Mitteleuropa; die Bauern<lb/> stehen als breite Masse mit 74 Procent da, ihnen schließen sich 5 Prozent</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0436]
Bahn zu durchkreuzen! Von unserer palastreichen Czarenstadt an der Newa
bis Petropawlowsk einer der fernsten Kosakenstädte im Osten, in Kamtschatka
gelegen, braucht der kaiserliche Courier volle drei Monate um an Ort und
Stelle zu gelangen. Rußland, das über zweimal so groß als ganz Europa
ist, könnte eine Welt für sich bilden; hat es doch Gubernien, wie z. B. Archangelsk
mit 14,000 Quadratmeilen, in denen ganz Deutschland bequem stecken könnte
und dann noch ein Raum übrig bliebe um ein paar Königreiche Bayern
daraus zu machen. Aber so imposant diese Zahlen auch aussehen, man darf
sich durch dieselben nicht täuschen lassen, entfallen in dem weiten Reiche doch
nur wenig mehr als 200 Seelen auf die Quadratmeile, während in Deutsch¬
land über 4000, in Großbritannien über 5000 auf dem gleich großen Raume
wohnen. Daher kommt es auch, daß das Land nur vier Städte von mehr
als 100,000 Einwohnern (Petersburg. Moskau, Warschau, Odessa) und im
ganzen 15 Städte mit mehr als 60,000 Einwohnern zählt. Das vierzigmal
kleinere Deutschland aber besitzt 10 Städte mit mehr als 100,000 Einwohnern
und 30 Städte, die über 50.000 Seelen zählen! Zeigen diese wenigen Zahlen
schon an, wie Rußland trotz aller Fortschritte doch immer noch vielfach anders
ist, wie die West- und mitteleuropäischen Staaten, so wird dieses noch augen¬
scheinlicher, wenn wir einige wesentliche Verhältnisse unsres Reichs betrachten.
In keinem europäischen Staate z. B. hat die Statistik der einzelnen Stände
eine solche Bedeutung wie in Rußland. Officiell werden zwar, wie überall
in Europa nur vier Stände, der Adel, Klerus, Bürger- und Bauernstand
angenommen, aber in jedem dieser Stände giebt es zahlreiche und scharf von
einander getrennte Gruppen, welche, wie beim Priesterstande, von einer Art
Kastengeist durchweht sind. Ueberdies muß noch bemerkt werden, daß gerade
die zwei wichtigsten Elemente in Rußland, der nicht ursprünglich russische
Bürger- und der Bauernstand, sich in einer Uebergangsperiode ihrer Ent¬
wicklung befinden. Hierzu tritt noch eine enorme und sociale Verschiedenheit
aller vier Stände in den einzelnen größeren Theilen des Reichs, welche ehe¬
mals ein selbstständiges staatliches und nationales Leben führten; außerdem
darf nicht übersehen werden, daß bei den zahlreichen Nomadenvölkern, welche
Rußland beherbergt, die Ständeunterschiede noch gar nicht zur Entfaltung
kamen und bei vielen nie sich entfalten werden. Nichts ergibt aber einen
besseren Einblick in die Verschiedenheit Rußlands von den übrigen europäischen
Ländern, als seine Ständestatistik. Der Adel jeden Grades steht da mit 1^2
Procent der Bevölkerung an der Spitze; auf die Geistlichkeit entfällt beinahe
1 Procent; Bürger im allerweitesten Sinne haben wir nur 8V2 Procent
gegenüber den 40 und 50 Procent in West- und Mitteleuropa; die Bauern
stehen als breite Masse mit 74 Procent da, ihnen schließen sich 5 Prozent
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |