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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Westgrenzen hinausgreifen wird. Wo sollte denn der easus bglli liegen?
Beide Reiche, Rußland und Deutschland, sind zu stark, um eines das andere
verschlingen zu wollen und dazu ist die Zeit doch zu sehr vorgeschritten, als
daß man für ein bloßes Turnier, für eine Erprobung der Kräfte ins Feld
ziehen sollte -- oder gar für eine Idee. Rußland muß es absolut aufgeben,
im Westen weiter vordringen zu wollen, es kann an eine Unterjochung Preu¬
ßens nicht denken und hat ohnehin in diesem Theile des Landes noch Polen
zu assimiliren/

Anders freilich liegen die Dinge mit Oesterreich und der Türkei. Unser
Czar und Kaiser Franz Joseph werden Freundschaftsbezeugungen in Berlin
austauschen -- wir hoffen und wünschen, daß sie dauernd und fest sind. Aber
wir können uns nicht verhehlen, daß in den slavischen Völkern Oesterreichs der
Keim und die Ursachen zu Kämpfen zwischen beiden Reichen liegt, daß die
Ideen der Panslavisten sich in Bezug auf Oesterreich doch noch verwirklichen
können. Ihr Schmerzenskind ist vor der Hand Galizien, wo 3 Millionen
Kleinrussen von 2 Millionen Polen tyrannisirt werden. Aber schlagen wir
hier das Buch zu -- es ist nicht an der Zeit in dem Augenblicke, wo die
Taube mit dem Oelblatt sich über den drei Kaisern an der Spree nieder¬
läßt, von zukünftigen feindlichen Affairen zu reden.

Die drei Reiche, die durch ihre Oberhäupter in Berlin repräsentirt wer¬
den, umfassen weit über die Hälfte Europas nach Größe ihrer Länder und
Zahl ihrer Bewohner. Von den 181,700 Quadratmeilen und 296 Millionen
Bewohnern unseres Erdtheils entfallen auf die drei Reiche 121,500 Quadratmeilen
mit 147 Millionen Bewohnern! Sie können über 3 Millionen Soldaten ins
Feld stellen und halten, wenn sie einig sind, den Weltfrieden in der Hand.
Wenn auch nicht nach der Qualität, so steht doch in Bezug auf Quantität
Rußland den beiden anderen Reichen weit voran. Schauen Sie auf eine
Karte, wie der Koloß sich über halb Europa und über daK ganze nördliche
Asien hinlagert, nach allen Seiten sich reckend und dehnend, in Centralasien
einen Brocken nach dem andern verschlingend! 381,000 Quadratmeilen umfaßt
das Gesammtreich; 80,000,000 Menschen, wohl hundert Nationalitäten und
Stämme wohnen in seinen Grenzen. Im Eismeer verloren, dem Pole sich
zustreckend, ist der Norden, in der Krim reifen die Südfrüchte, in Turkestan
gedeiht die Baumwolle und einzelne Strecken Südsibiriens weisen ein italienisches
Klima auf. Von Ost nach West braucht ein Wanderer, der täglich unaus¬
gesetzt 8 Meilen zurücklegt, 233 Tage um Rußland zu durchschreiten, und
würde man den Weg mit der Eisenbahn zurücklegen können, so müßte man
bei einer Schnelligkeit von 4 Meilen per Stunde 20 Tage ununterbrochen
fahren, um von der West- zur Ostgrenze Rußlands zu gelangen, während
z. B. anderthalb Tage genügen um Deutschland von West nach Ost mit der


Westgrenzen hinausgreifen wird. Wo sollte denn der easus bglli liegen?
Beide Reiche, Rußland und Deutschland, sind zu stark, um eines das andere
verschlingen zu wollen und dazu ist die Zeit doch zu sehr vorgeschritten, als
daß man für ein bloßes Turnier, für eine Erprobung der Kräfte ins Feld
ziehen sollte — oder gar für eine Idee. Rußland muß es absolut aufgeben,
im Westen weiter vordringen zu wollen, es kann an eine Unterjochung Preu¬
ßens nicht denken und hat ohnehin in diesem Theile des Landes noch Polen
zu assimiliren/

Anders freilich liegen die Dinge mit Oesterreich und der Türkei. Unser
Czar und Kaiser Franz Joseph werden Freundschaftsbezeugungen in Berlin
austauschen — wir hoffen und wünschen, daß sie dauernd und fest sind. Aber
wir können uns nicht verhehlen, daß in den slavischen Völkern Oesterreichs der
Keim und die Ursachen zu Kämpfen zwischen beiden Reichen liegt, daß die
Ideen der Panslavisten sich in Bezug auf Oesterreich doch noch verwirklichen
können. Ihr Schmerzenskind ist vor der Hand Galizien, wo 3 Millionen
Kleinrussen von 2 Millionen Polen tyrannisirt werden. Aber schlagen wir
hier das Buch zu — es ist nicht an der Zeit in dem Augenblicke, wo die
Taube mit dem Oelblatt sich über den drei Kaisern an der Spree nieder¬
läßt, von zukünftigen feindlichen Affairen zu reden.

Die drei Reiche, die durch ihre Oberhäupter in Berlin repräsentirt wer¬
den, umfassen weit über die Hälfte Europas nach Größe ihrer Länder und
Zahl ihrer Bewohner. Von den 181,700 Quadratmeilen und 296 Millionen
Bewohnern unseres Erdtheils entfallen auf die drei Reiche 121,500 Quadratmeilen
mit 147 Millionen Bewohnern! Sie können über 3 Millionen Soldaten ins
Feld stellen und halten, wenn sie einig sind, den Weltfrieden in der Hand.
Wenn auch nicht nach der Qualität, so steht doch in Bezug auf Quantität
Rußland den beiden anderen Reichen weit voran. Schauen Sie auf eine
Karte, wie der Koloß sich über halb Europa und über daK ganze nördliche
Asien hinlagert, nach allen Seiten sich reckend und dehnend, in Centralasien
einen Brocken nach dem andern verschlingend! 381,000 Quadratmeilen umfaßt
das Gesammtreich; 80,000,000 Menschen, wohl hundert Nationalitäten und
Stämme wohnen in seinen Grenzen. Im Eismeer verloren, dem Pole sich
zustreckend, ist der Norden, in der Krim reifen die Südfrüchte, in Turkestan
gedeiht die Baumwolle und einzelne Strecken Südsibiriens weisen ein italienisches
Klima auf. Von Ost nach West braucht ein Wanderer, der täglich unaus¬
gesetzt 8 Meilen zurücklegt, 233 Tage um Rußland zu durchschreiten, und
würde man den Weg mit der Eisenbahn zurücklegen können, so müßte man
bei einer Schnelligkeit von 4 Meilen per Stunde 20 Tage ununterbrochen
fahren, um von der West- zur Ostgrenze Rußlands zu gelangen, während
z. B. anderthalb Tage genügen um Deutschland von West nach Ost mit der


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[0435] Westgrenzen hinausgreifen wird. Wo sollte denn der easus bglli liegen? Beide Reiche, Rußland und Deutschland, sind zu stark, um eines das andere verschlingen zu wollen und dazu ist die Zeit doch zu sehr vorgeschritten, als daß man für ein bloßes Turnier, für eine Erprobung der Kräfte ins Feld ziehen sollte — oder gar für eine Idee. Rußland muß es absolut aufgeben, im Westen weiter vordringen zu wollen, es kann an eine Unterjochung Preu¬ ßens nicht denken und hat ohnehin in diesem Theile des Landes noch Polen zu assimiliren/ Anders freilich liegen die Dinge mit Oesterreich und der Türkei. Unser Czar und Kaiser Franz Joseph werden Freundschaftsbezeugungen in Berlin austauschen — wir hoffen und wünschen, daß sie dauernd und fest sind. Aber wir können uns nicht verhehlen, daß in den slavischen Völkern Oesterreichs der Keim und die Ursachen zu Kämpfen zwischen beiden Reichen liegt, daß die Ideen der Panslavisten sich in Bezug auf Oesterreich doch noch verwirklichen können. Ihr Schmerzenskind ist vor der Hand Galizien, wo 3 Millionen Kleinrussen von 2 Millionen Polen tyrannisirt werden. Aber schlagen wir hier das Buch zu — es ist nicht an der Zeit in dem Augenblicke, wo die Taube mit dem Oelblatt sich über den drei Kaisern an der Spree nieder¬ läßt, von zukünftigen feindlichen Affairen zu reden. Die drei Reiche, die durch ihre Oberhäupter in Berlin repräsentirt wer¬ den, umfassen weit über die Hälfte Europas nach Größe ihrer Länder und Zahl ihrer Bewohner. Von den 181,700 Quadratmeilen und 296 Millionen Bewohnern unseres Erdtheils entfallen auf die drei Reiche 121,500 Quadratmeilen mit 147 Millionen Bewohnern! Sie können über 3 Millionen Soldaten ins Feld stellen und halten, wenn sie einig sind, den Weltfrieden in der Hand. Wenn auch nicht nach der Qualität, so steht doch in Bezug auf Quantität Rußland den beiden anderen Reichen weit voran. Schauen Sie auf eine Karte, wie der Koloß sich über halb Europa und über daK ganze nördliche Asien hinlagert, nach allen Seiten sich reckend und dehnend, in Centralasien einen Brocken nach dem andern verschlingend! 381,000 Quadratmeilen umfaßt das Gesammtreich; 80,000,000 Menschen, wohl hundert Nationalitäten und Stämme wohnen in seinen Grenzen. Im Eismeer verloren, dem Pole sich zustreckend, ist der Norden, in der Krim reifen die Südfrüchte, in Turkestan gedeiht die Baumwolle und einzelne Strecken Südsibiriens weisen ein italienisches Klima auf. Von Ost nach West braucht ein Wanderer, der täglich unaus¬ gesetzt 8 Meilen zurücklegt, 233 Tage um Rußland zu durchschreiten, und würde man den Weg mit der Eisenbahn zurücklegen können, so müßte man bei einer Schnelligkeit von 4 Meilen per Stunde 20 Tage ununterbrochen fahren, um von der West- zur Ostgrenze Rußlands zu gelangen, während z. B. anderthalb Tage genügen um Deutschland von West nach Ost mit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/435>, abgerufen am 22.07.2024.