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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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ren Schulen germanisirt worden. Man ging darin so weit wie möglich und
nahm Aeußerlichkeiten, wie die preußische Pickelhaube an, so daß man zeit¬
weilig hier nicht an der Newa, sondern an der Spree zu sein glaubte. Das
war aber unnatürlich und die Reaction mußte sich einstellen. Wäre sie nur
nicht heftig, Hals über Kopf, das Kind mit dem Bade ausschüttend, undank¬
bar und gehässig ausgetreten, wer hätte es ihr verdenken wollen, wenn sie
das "Rußland für die Russen" zur Wahrheit machte? So aber glaubte die
mächtig erwachende Nationalpartei, vor allem die Presse, in völliger Negation
und Verachtung dessen, was bisher als gut gegolten, das Aeußerste leisten zu
müssen. Wehe dem Finnen, der sich aus seine Sonderrechte berief und seine
finnische Nationalität hochhielt, wehe dem Polen -- hier war die Unter¬
drückung gleichsam selbstverständlich! -- wehe dem Esthen, dem Letten, wehe
vor allem dem Deutschen in den Ostseeprovinzen! Daß man mit den nicht¬
russischen Völkern im Osten, den verschiedenen asiatischen Racen, umsprang,
wie man wollte, bedarf gar keiner Erwähnung. In dem weiten Reiche des
Czaren vom Niemen bis an die Beringsstraße und vom Schwarzen Meer oder
Altai bis ans Eismeer darf nur ein Volk, das russische wohnen. In wie
weit man die übrigen Nationalitäten dulden wird, steht dahin.

Deutschland wird durch dieses Vorgehen" nur in den Ostseeprovinzen be¬
rührt und so schmerzlich auch dem Deutschen die Unterdrückung und Benach¬
teiligung seiner Stammesgenossen in Liv-, Kur- und Esthland sein mag, wir
glauben nicht, daß dadurch eine ernstere Verwicklung zwischen beiden Reichen
entsteht. Der Deutsche in den baltischen Gegenden ist das Salz und Mark
des Landes, er hat dort die Städte gegründet, hat den Handel und Wandel
in der Hand, hat mit einem Worte die ganze Cultur vertreten und er ver¬
tritt sie noch auf lange Zeit. Wir begreifen völlig, wie der Russe gern den
fetten Culturbissen verschluckt und ein Element incorporiren will, das ihn ge¬
waltig stärken muß. Wird aber Deutschland um dessentwillen je mit gewaff-
neter Hand einschreiten, kann es die Absicht haben die Ostseeprovinzen zu er¬
obern? Wir glauben nimmer, und würden dieses für die unglückseligste Wen¬
dung der deutschen Politik halten. Man halte doch stets fest: der Deutsche
in den Ostseeprovinzen ist numerisch schwach, so sehr er geistig auch das Ge¬
präge der Landschaft ausmacht; nur in den Städten bildet er Sprachinseln --
die breite Masse des Volks, das ganze platte Land ist keltisch und esthnisch.
Kann aber Deutschland, das jetzt schon durch Polen, Dänen und Franzosen
gegen 4 Prozent fremde Nationalitäten in sich aufgenommen hat, wünschen,
daß dieses Verhältniß noch vermehrt werde? Je reiner es sein Volksthum
hält, desto stärker wird es sein. Was hat unser Rußland, was hat Oester¬
reich unter dem Hader der Nationalitäten zu leiden! "

Anderseits aber fürchten wir auch nicht, daß Rußland über seine heutigen


ren Schulen germanisirt worden. Man ging darin so weit wie möglich und
nahm Aeußerlichkeiten, wie die preußische Pickelhaube an, so daß man zeit¬
weilig hier nicht an der Newa, sondern an der Spree zu sein glaubte. Das
war aber unnatürlich und die Reaction mußte sich einstellen. Wäre sie nur
nicht heftig, Hals über Kopf, das Kind mit dem Bade ausschüttend, undank¬
bar und gehässig ausgetreten, wer hätte es ihr verdenken wollen, wenn sie
das „Rußland für die Russen" zur Wahrheit machte? So aber glaubte die
mächtig erwachende Nationalpartei, vor allem die Presse, in völliger Negation
und Verachtung dessen, was bisher als gut gegolten, das Aeußerste leisten zu
müssen. Wehe dem Finnen, der sich aus seine Sonderrechte berief und seine
finnische Nationalität hochhielt, wehe dem Polen — hier war die Unter¬
drückung gleichsam selbstverständlich! — wehe dem Esthen, dem Letten, wehe
vor allem dem Deutschen in den Ostseeprovinzen! Daß man mit den nicht¬
russischen Völkern im Osten, den verschiedenen asiatischen Racen, umsprang,
wie man wollte, bedarf gar keiner Erwähnung. In dem weiten Reiche des
Czaren vom Niemen bis an die Beringsstraße und vom Schwarzen Meer oder
Altai bis ans Eismeer darf nur ein Volk, das russische wohnen. In wie
weit man die übrigen Nationalitäten dulden wird, steht dahin.

Deutschland wird durch dieses Vorgehen" nur in den Ostseeprovinzen be¬
rührt und so schmerzlich auch dem Deutschen die Unterdrückung und Benach¬
teiligung seiner Stammesgenossen in Liv-, Kur- und Esthland sein mag, wir
glauben nicht, daß dadurch eine ernstere Verwicklung zwischen beiden Reichen
entsteht. Der Deutsche in den baltischen Gegenden ist das Salz und Mark
des Landes, er hat dort die Städte gegründet, hat den Handel und Wandel
in der Hand, hat mit einem Worte die ganze Cultur vertreten und er ver¬
tritt sie noch auf lange Zeit. Wir begreifen völlig, wie der Russe gern den
fetten Culturbissen verschluckt und ein Element incorporiren will, das ihn ge¬
waltig stärken muß. Wird aber Deutschland um dessentwillen je mit gewaff-
neter Hand einschreiten, kann es die Absicht haben die Ostseeprovinzen zu er¬
obern? Wir glauben nimmer, und würden dieses für die unglückseligste Wen¬
dung der deutschen Politik halten. Man halte doch stets fest: der Deutsche
in den Ostseeprovinzen ist numerisch schwach, so sehr er geistig auch das Ge¬
präge der Landschaft ausmacht; nur in den Städten bildet er Sprachinseln —
die breite Masse des Volks, das ganze platte Land ist keltisch und esthnisch.
Kann aber Deutschland, das jetzt schon durch Polen, Dänen und Franzosen
gegen 4 Prozent fremde Nationalitäten in sich aufgenommen hat, wünschen,
daß dieses Verhältniß noch vermehrt werde? Je reiner es sein Volksthum
hält, desto stärker wird es sein. Was hat unser Rußland, was hat Oester¬
reich unter dem Hader der Nationalitäten zu leiden! «

Anderseits aber fürchten wir auch nicht, daß Rußland über seine heutigen


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[0434] ren Schulen germanisirt worden. Man ging darin so weit wie möglich und nahm Aeußerlichkeiten, wie die preußische Pickelhaube an, so daß man zeit¬ weilig hier nicht an der Newa, sondern an der Spree zu sein glaubte. Das war aber unnatürlich und die Reaction mußte sich einstellen. Wäre sie nur nicht heftig, Hals über Kopf, das Kind mit dem Bade ausschüttend, undank¬ bar und gehässig ausgetreten, wer hätte es ihr verdenken wollen, wenn sie das „Rußland für die Russen" zur Wahrheit machte? So aber glaubte die mächtig erwachende Nationalpartei, vor allem die Presse, in völliger Negation und Verachtung dessen, was bisher als gut gegolten, das Aeußerste leisten zu müssen. Wehe dem Finnen, der sich aus seine Sonderrechte berief und seine finnische Nationalität hochhielt, wehe dem Polen — hier war die Unter¬ drückung gleichsam selbstverständlich! — wehe dem Esthen, dem Letten, wehe vor allem dem Deutschen in den Ostseeprovinzen! Daß man mit den nicht¬ russischen Völkern im Osten, den verschiedenen asiatischen Racen, umsprang, wie man wollte, bedarf gar keiner Erwähnung. In dem weiten Reiche des Czaren vom Niemen bis an die Beringsstraße und vom Schwarzen Meer oder Altai bis ans Eismeer darf nur ein Volk, das russische wohnen. In wie weit man die übrigen Nationalitäten dulden wird, steht dahin. Deutschland wird durch dieses Vorgehen" nur in den Ostseeprovinzen be¬ rührt und so schmerzlich auch dem Deutschen die Unterdrückung und Benach¬ teiligung seiner Stammesgenossen in Liv-, Kur- und Esthland sein mag, wir glauben nicht, daß dadurch eine ernstere Verwicklung zwischen beiden Reichen entsteht. Der Deutsche in den baltischen Gegenden ist das Salz und Mark des Landes, er hat dort die Städte gegründet, hat den Handel und Wandel in der Hand, hat mit einem Worte die ganze Cultur vertreten und er ver¬ tritt sie noch auf lange Zeit. Wir begreifen völlig, wie der Russe gern den fetten Culturbissen verschluckt und ein Element incorporiren will, das ihn ge¬ waltig stärken muß. Wird aber Deutschland um dessentwillen je mit gewaff- neter Hand einschreiten, kann es die Absicht haben die Ostseeprovinzen zu er¬ obern? Wir glauben nimmer, und würden dieses für die unglückseligste Wen¬ dung der deutschen Politik halten. Man halte doch stets fest: der Deutsche in den Ostseeprovinzen ist numerisch schwach, so sehr er geistig auch das Ge¬ präge der Landschaft ausmacht; nur in den Städten bildet er Sprachinseln — die breite Masse des Volks, das ganze platte Land ist keltisch und esthnisch. Kann aber Deutschland, das jetzt schon durch Polen, Dänen und Franzosen gegen 4 Prozent fremde Nationalitäten in sich aufgenommen hat, wünschen, daß dieses Verhältniß noch vermehrt werde? Je reiner es sein Volksthum hält, desto stärker wird es sein. Was hat unser Rußland, was hat Oester¬ reich unter dem Hader der Nationalitäten zu leiden! « Anderseits aber fürchten wir auch nicht, daß Rußland über seine heutigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/434>, abgerufen am 22.07.2024.