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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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von denen 158,000 kriegsbereit waren; am 1. Juni betrug der Stand der na¬
poleonischen Feldarmee 276,982 Mann, von denen 198,130 kriegsbereit wa¬
ren. Der Kaiser hatte also den schlagfertigen Stand seiner Feldarmee
(armes Ze ligne) in dritthalb Monaten um nur 43,000 Mann vermehrt. Um
die Etatsstärke der Truppen zu erreichen, fehlten ihm noch 104,893 Mann
und über 20,000 Pferde.*) -- Dies kann allerdings nicht als eine außeror¬
dentliche Leitung betrachtet werden. -- Hiezu kam nun die Hilfsarmee
(g.rin6ö extravräivairL). Sie bestand um Mitte Juni aus 130,000 Mann
mobiler Nationalgarde, 45,000 alten Matrofen und Verabschiedeten, 10,000
Küsten- und Grenzwächtern. D-e Hälfte dieser Hilfsarmee war nicht unifor-
mirt, wenigstens ein Drittel nicht bewaffnet.

Während des April und Mai hatte der Kaiser nach und nach aus den
disponiblen Truppen formirt: 1 Corps Kaisergarde, 7 Linien-Armeecorps,
4 Cavallerie-Corps 4 Observations-Corps (Jura, Bar, Ost- und West-Pyre¬
näen) und eine Armee gegen die empörte Vendee. -- Das V. Corps unter
Rapp stand im Elsaß, das VII. unter Suchet in Savoyen, die Hauptmasse
(Garde, I., II., III., IV., VI. Corps und die vier Reitercorps) bildeten die
große Armee, welche am 10. Juni 158,000 Mann und 344 Geschütze stark,
von Napoleon geführt, in Belgien einmarschirte.

Dies Heer hatte in seiner Erscheinung und Befehlsführung ungemein viel
Jmponirendes. Fast durchweg bestand es aus Soldaten, die den Krieg be¬
reits kannten**), Vittoria und Leipzig, Kulm und Paris hatten sie vergessen;
nur die Ruhmestage lebten in ihrem Gedächtnisse und es erfüllte sie ein fa¬
natischer Wunsch, das Unglück zu rächen, welches nur durch die Verbindung
ungeheuerer Ueberzahl mit dem unerläßlichen Verrath über das Frankreich
des großen Napoleon gekommen sei. Und die Feldherrn? "Wer konnte sich
einen trefflicheren Generalstabschef denken als den Marschall Soult? Wer
konnte ein starkes Infanterie-Corps besser führen als G6rard, Lobau oder
Rente? Was konnte man nicht von einer Reiterei erwarten, welche Pajol,
Kellermann. Excelmans, Milhaud zu Führern hatte? Und, um alle Welt
fortzureißen, befand sich der "Bravste der Braven" an der Seite des Kaisers".***)
-- Aber Thiers hat Recht, wenn er bemerkt, daß dieser sonst so ausgezeich¬
neten Armee Schweigen und Einigkeit fehlten. Die Stimmung sämmtlicher
Chefs entsprach keineswegs dem Eifer der Soldaten; Generale und Officiere
sahen sich entweder zum erstenmal, oder fanden sich nach langer Trennung





') Charras a. a. O.
'") Die größte Masse der Soldaten datirte vom Frühjahr 1813, die andern hatten von ö
bis zu 10 und 12 Jahren Dienstzeit.
"-) N. Is uno Ä'^nos.1s a. a. O.

von denen 158,000 kriegsbereit waren; am 1. Juni betrug der Stand der na¬
poleonischen Feldarmee 276,982 Mann, von denen 198,130 kriegsbereit wa¬
ren. Der Kaiser hatte also den schlagfertigen Stand seiner Feldarmee
(armes Ze ligne) in dritthalb Monaten um nur 43,000 Mann vermehrt. Um
die Etatsstärke der Truppen zu erreichen, fehlten ihm noch 104,893 Mann
und über 20,000 Pferde.*) — Dies kann allerdings nicht als eine außeror¬
dentliche Leitung betrachtet werden. — Hiezu kam nun die Hilfsarmee
(g.rin6ö extravräivairL). Sie bestand um Mitte Juni aus 130,000 Mann
mobiler Nationalgarde, 45,000 alten Matrofen und Verabschiedeten, 10,000
Küsten- und Grenzwächtern. D-e Hälfte dieser Hilfsarmee war nicht unifor-
mirt, wenigstens ein Drittel nicht bewaffnet.

Während des April und Mai hatte der Kaiser nach und nach aus den
disponiblen Truppen formirt: 1 Corps Kaisergarde, 7 Linien-Armeecorps,
4 Cavallerie-Corps 4 Observations-Corps (Jura, Bar, Ost- und West-Pyre¬
näen) und eine Armee gegen die empörte Vendee. — Das V. Corps unter
Rapp stand im Elsaß, das VII. unter Suchet in Savoyen, die Hauptmasse
(Garde, I., II., III., IV., VI. Corps und die vier Reitercorps) bildeten die
große Armee, welche am 10. Juni 158,000 Mann und 344 Geschütze stark,
von Napoleon geführt, in Belgien einmarschirte.

Dies Heer hatte in seiner Erscheinung und Befehlsführung ungemein viel
Jmponirendes. Fast durchweg bestand es aus Soldaten, die den Krieg be¬
reits kannten**), Vittoria und Leipzig, Kulm und Paris hatten sie vergessen;
nur die Ruhmestage lebten in ihrem Gedächtnisse und es erfüllte sie ein fa¬
natischer Wunsch, das Unglück zu rächen, welches nur durch die Verbindung
ungeheuerer Ueberzahl mit dem unerläßlichen Verrath über das Frankreich
des großen Napoleon gekommen sei. Und die Feldherrn? „Wer konnte sich
einen trefflicheren Generalstabschef denken als den Marschall Soult? Wer
konnte ein starkes Infanterie-Corps besser führen als G6rard, Lobau oder
Rente? Was konnte man nicht von einer Reiterei erwarten, welche Pajol,
Kellermann. Excelmans, Milhaud zu Führern hatte? Und, um alle Welt
fortzureißen, befand sich der „Bravste der Braven" an der Seite des Kaisers".***)
— Aber Thiers hat Recht, wenn er bemerkt, daß dieser sonst so ausgezeich¬
neten Armee Schweigen und Einigkeit fehlten. Die Stimmung sämmtlicher
Chefs entsprach keineswegs dem Eifer der Soldaten; Generale und Officiere
sahen sich entweder zum erstenmal, oder fanden sich nach langer Trennung





') Charras a. a. O.
'") Die größte Masse der Soldaten datirte vom Frühjahr 1813, die andern hatten von ö
bis zu 10 und 12 Jahren Dienstzeit.
"-) N. Is uno Ä'^nos.1s a. a. O.
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[0413] von denen 158,000 kriegsbereit waren; am 1. Juni betrug der Stand der na¬ poleonischen Feldarmee 276,982 Mann, von denen 198,130 kriegsbereit wa¬ ren. Der Kaiser hatte also den schlagfertigen Stand seiner Feldarmee (armes Ze ligne) in dritthalb Monaten um nur 43,000 Mann vermehrt. Um die Etatsstärke der Truppen zu erreichen, fehlten ihm noch 104,893 Mann und über 20,000 Pferde.*) — Dies kann allerdings nicht als eine außeror¬ dentliche Leitung betrachtet werden. — Hiezu kam nun die Hilfsarmee (g.rin6ö extravräivairL). Sie bestand um Mitte Juni aus 130,000 Mann mobiler Nationalgarde, 45,000 alten Matrofen und Verabschiedeten, 10,000 Küsten- und Grenzwächtern. D-e Hälfte dieser Hilfsarmee war nicht unifor- mirt, wenigstens ein Drittel nicht bewaffnet. Während des April und Mai hatte der Kaiser nach und nach aus den disponiblen Truppen formirt: 1 Corps Kaisergarde, 7 Linien-Armeecorps, 4 Cavallerie-Corps 4 Observations-Corps (Jura, Bar, Ost- und West-Pyre¬ näen) und eine Armee gegen die empörte Vendee. — Das V. Corps unter Rapp stand im Elsaß, das VII. unter Suchet in Savoyen, die Hauptmasse (Garde, I., II., III., IV., VI. Corps und die vier Reitercorps) bildeten die große Armee, welche am 10. Juni 158,000 Mann und 344 Geschütze stark, von Napoleon geführt, in Belgien einmarschirte. Dies Heer hatte in seiner Erscheinung und Befehlsführung ungemein viel Jmponirendes. Fast durchweg bestand es aus Soldaten, die den Krieg be¬ reits kannten**), Vittoria und Leipzig, Kulm und Paris hatten sie vergessen; nur die Ruhmestage lebten in ihrem Gedächtnisse und es erfüllte sie ein fa¬ natischer Wunsch, das Unglück zu rächen, welches nur durch die Verbindung ungeheuerer Ueberzahl mit dem unerläßlichen Verrath über das Frankreich des großen Napoleon gekommen sei. Und die Feldherrn? „Wer konnte sich einen trefflicheren Generalstabschef denken als den Marschall Soult? Wer konnte ein starkes Infanterie-Corps besser führen als G6rard, Lobau oder Rente? Was konnte man nicht von einer Reiterei erwarten, welche Pajol, Kellermann. Excelmans, Milhaud zu Führern hatte? Und, um alle Welt fortzureißen, befand sich der „Bravste der Braven" an der Seite des Kaisers".***) — Aber Thiers hat Recht, wenn er bemerkt, daß dieser sonst so ausgezeich¬ neten Armee Schweigen und Einigkeit fehlten. Die Stimmung sämmtlicher Chefs entsprach keineswegs dem Eifer der Soldaten; Generale und Officiere sahen sich entweder zum erstenmal, oder fanden sich nach langer Trennung ') Charras a. a. O. '") Die größte Masse der Soldaten datirte vom Frühjahr 1813, die andern hatten von ö bis zu 10 und 12 Jahren Dienstzeit. "-) N. Is uno Ä'^nos.1s a. a. O.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/413>, abgerufen am 04.07.2024.