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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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ringert worden: auf 280,000 sehr diensttauglicher Leute war aber ohne Frage
zu zählen. -- Dazu kam nun die Conscription von 1815, dieselbe, welche
Napoleon bereits durch Dekret vom 9. October 1812 einberufen, von der
damals aber nur etwa 46,000 Mann in die Depots gelangt waren, um gleich
wieder entlassen zu werden. Diese, ursprünglich auf 160,000 Mann geschätzte
Aushebung mußte wenigstens 110,000 Mann ergeben. Ein einfaches Dekret
konnte also zur vorhandenen Armee noch 360,000 Mann unter Waffen rufen,
von denen 250,000 Soldaten waren, die den Krieg kannten. -- 100,000
verabschiedete Militairs konnten außerdem 23 -- 30,000 Mann zur
Besetzung der Festungen liefern und auch die Matrosen der vernichteten
Flotte waren zu ähnlichen Zwecken heranzuziehen. -- Hinter alle dem aber
stand noch die Nationalgarde, welche die Reserve des Heeres bilden konnte.

Napoleon griff auf alle diese Hilfskräfte zurück, aber zögernd, langsam,
fast timide. In seinen Dictaten von Se. Helena hat er sich der "Wunder von
Energie" gerühmt, die vom 20. März bis zum 15. Juni 1815 vollbracht
worden seien und ein glänzendes Bild davon entworfen, und doch hat es
grade an Energie und Thätigkeit, die zu der vorhandenen Gefahr im Ver¬
hältniß gestanden hätten, entschieden gefehlt: überall, auch bei dem Kaiser
selbst. Drei Wochen lang befand er sich bereits in den Tuilerien, bevor er die
ersten nothwendigen Maßregeln traf, um die Militärkräfte des Reiches zu
erhöhen.*)

Es ist bezeichnend, daß zu den ersten Maßregeln des neuen "liberalen"
Regimes der Appell an die Nationalgarde gehörte, deren Aufstellung
Carnot mit großem Eifer betrieb. Dieser alte Republikaner verfolgte bei
seinen Bestrebungen zur Hebung der Bürgerwehr zugleich den Zweck, die
Herrschaft der Armee, auf welche sich der cäsarische Despotismus stützte, zu
beschränken. Die Nationalgarten, welche unter dem Königthums so beträcht¬
lich entwickelt und im ersten Elan des 20. März fast überall zusammengetreten
waren, sollten dergestalt ausgebildet werden, daß sie im Stande seien, die
Landesvertheidigung zum größeren Theil zu übernehmen; aber durch geringere
Strenge in Disciplin und Uniformität und namentlich durch die jährliche
Wahl ihrer Offiziere sollte ihnen der bürgerliche Charakter erhalten bleiben.
Gegen den letzten Punkt wehrte sich jedoch Napoleon mit großem Recht und
mit aller Energie. Am 9. April erließ er zwei Decrete, welche die National¬
garde organisirten. Wie früher blieben ihr, in 3131 Bataillone vertheilte
alle Männer vom 20. bis 60. Lebensjahr d. h. 2V" Million Menschen ver¬
pflichtet; aus den Männern zwischen 20 und 40 Jahren sollten Grenadier-
und Jägerbataillone errichtet werden, die der Kaiser mobil machen konnt,



Charas a. a, O.
Grenzboten III. 1872.52

ringert worden: auf 280,000 sehr diensttauglicher Leute war aber ohne Frage
zu zählen. — Dazu kam nun die Conscription von 1815, dieselbe, welche
Napoleon bereits durch Dekret vom 9. October 1812 einberufen, von der
damals aber nur etwa 46,000 Mann in die Depots gelangt waren, um gleich
wieder entlassen zu werden. Diese, ursprünglich auf 160,000 Mann geschätzte
Aushebung mußte wenigstens 110,000 Mann ergeben. Ein einfaches Dekret
konnte also zur vorhandenen Armee noch 360,000 Mann unter Waffen rufen,
von denen 250,000 Soldaten waren, die den Krieg kannten. — 100,000
verabschiedete Militairs konnten außerdem 23 — 30,000 Mann zur
Besetzung der Festungen liefern und auch die Matrosen der vernichteten
Flotte waren zu ähnlichen Zwecken heranzuziehen. — Hinter alle dem aber
stand noch die Nationalgarde, welche die Reserve des Heeres bilden konnte.

Napoleon griff auf alle diese Hilfskräfte zurück, aber zögernd, langsam,
fast timide. In seinen Dictaten von Se. Helena hat er sich der „Wunder von
Energie" gerühmt, die vom 20. März bis zum 15. Juni 1815 vollbracht
worden seien und ein glänzendes Bild davon entworfen, und doch hat es
grade an Energie und Thätigkeit, die zu der vorhandenen Gefahr im Ver¬
hältniß gestanden hätten, entschieden gefehlt: überall, auch bei dem Kaiser
selbst. Drei Wochen lang befand er sich bereits in den Tuilerien, bevor er die
ersten nothwendigen Maßregeln traf, um die Militärkräfte des Reiches zu
erhöhen.*)

Es ist bezeichnend, daß zu den ersten Maßregeln des neuen „liberalen"
Regimes der Appell an die Nationalgarde gehörte, deren Aufstellung
Carnot mit großem Eifer betrieb. Dieser alte Republikaner verfolgte bei
seinen Bestrebungen zur Hebung der Bürgerwehr zugleich den Zweck, die
Herrschaft der Armee, auf welche sich der cäsarische Despotismus stützte, zu
beschränken. Die Nationalgarten, welche unter dem Königthums so beträcht¬
lich entwickelt und im ersten Elan des 20. März fast überall zusammengetreten
waren, sollten dergestalt ausgebildet werden, daß sie im Stande seien, die
Landesvertheidigung zum größeren Theil zu übernehmen; aber durch geringere
Strenge in Disciplin und Uniformität und namentlich durch die jährliche
Wahl ihrer Offiziere sollte ihnen der bürgerliche Charakter erhalten bleiben.
Gegen den letzten Punkt wehrte sich jedoch Napoleon mit großem Recht und
mit aller Energie. Am 9. April erließ er zwei Decrete, welche die National¬
garde organisirten. Wie früher blieben ihr, in 3131 Bataillone vertheilte
alle Männer vom 20. bis 60. Lebensjahr d. h. 2V» Million Menschen ver¬
pflichtet; aus den Männern zwischen 20 und 40 Jahren sollten Grenadier-
und Jägerbataillone errichtet werden, die der Kaiser mobil machen konnt,



Charas a. a, O.
Grenzboten III. 1872.52
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/409>, abgerufen am 22.07.2024.