Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

des Kaiserthums^ward durch eine Militairrevolutionlbewirkt,
der sich die Mehrheit der Nation mit kleinmüthiger Ergebung fügte, während
ihr eine Minderheit mit aufrichtiger Begeisterung zujauchzte, eine andere
Minderheit offenen Widerstand leistete.")

Marmont, den Napoleon jetzt mit seinem grimmigsten Haß beehrte, rieth
dem Könige, sich mit vielem Geschütz, zuverlässiger Besatzung und Vorräthen
in den Tuilerien zu verschanzen. Er war überzeugt, daß es Napoleon auf
eine Belagerung mitten in Paris nicht ankommen lassen werde; aber Louis XVIII.
ging nicht darauf ein; er reiste in der Nacht ab. Tags darauf, am 19. März,
traten die Haustruppen den Marsch nach Norden an, und am Abend des 20.,
dem Geburtstage des Königs von Rom, bezog Napoleon die Tuilerien.

Es galt nun eine abermalige Heeresreorganisation. Das Porte¬
feuille des Krieges empfing Davoust, das des Innern Carnot. Von der
Grenze Frankreichs aus hatte der König die Armee für aufgelöst erklärt; sie
war jedoch natürlich intakt und beisammen geblieben. Seit sie den Kaiser
wieder in Paris wußten, hatten fast alle Marschälle ihre Corps die dreifarbige
Kokarde nehmen lassen, ohne in die frühere Unterwürfigkeit zurücktreten zu
wollen. Nur Victor und Marmont folgten dem Könige, Berthier war nach
Deutschland gegangen, Macdonald blieb als Privatmann in Paris; die andern,
auch Soult, traten wieder in den Dienst des Kaisers.

Die Armee, welche Napoleon vorfand, war zwar sehr viel schwächer,
aber wesentlich besser als diejenige, von der er geschieden war. Sie verdankte
diese qualitative Steigerung der Rückkehr jener kriegsgewohnten alten Garni¬
sonen aus den deutschen Festungen und der großen Menge entlassener Kriegs¬
gefangener. Unter (Anrechnung der von Elba mitgebrachten Truppen verfügte
der Kaiser über 223,972 Mann aller Waffen bei den Fahnen,**) 19,300 Mann
in begrenztem, 30,646 Mann in unbegrenztem Urlaub. Ungeheuer aber waren
die Hilfsquellen an Menschen, welche ihm außer dieser vom Königthums
übernommenen Armee zu Gebote standen.

Im April 1814 wiesen die französischen Armeen von Paris, Lyon, Tou¬
louse und Italien, die Festungsgarnisonen in Frankreich und Belgien, am
Rhein, in Deutschland :e. und die Depots zusammen eine Truppenstärke von
450,000 Mann nach. Der Friede gab Frankreich 130,000 kriegsgefangene
Soldaten zurück. Es disponirte also am 1. April 1815 außer der 280,000
Mann starken activen Armee über 366,000 kriegserfahrene Soldaten,
aus denen es seine Heerschaaren zusammensetzen konnte. Ohne Zweifel waren
durch Verwundung, Krankheit, Tod, "Verheirathung" ?e. diese Zahlen ver-




") v. Rochau a. a. O.
Abgesehen von 8000 Mann in den Lazarethen.

des Kaiserthums^ward durch eine Militairrevolutionlbewirkt,
der sich die Mehrheit der Nation mit kleinmüthiger Ergebung fügte, während
ihr eine Minderheit mit aufrichtiger Begeisterung zujauchzte, eine andere
Minderheit offenen Widerstand leistete.")

Marmont, den Napoleon jetzt mit seinem grimmigsten Haß beehrte, rieth
dem Könige, sich mit vielem Geschütz, zuverlässiger Besatzung und Vorräthen
in den Tuilerien zu verschanzen. Er war überzeugt, daß es Napoleon auf
eine Belagerung mitten in Paris nicht ankommen lassen werde; aber Louis XVIII.
ging nicht darauf ein; er reiste in der Nacht ab. Tags darauf, am 19. März,
traten die Haustruppen den Marsch nach Norden an, und am Abend des 20.,
dem Geburtstage des Königs von Rom, bezog Napoleon die Tuilerien.

Es galt nun eine abermalige Heeresreorganisation. Das Porte¬
feuille des Krieges empfing Davoust, das des Innern Carnot. Von der
Grenze Frankreichs aus hatte der König die Armee für aufgelöst erklärt; sie
war jedoch natürlich intakt und beisammen geblieben. Seit sie den Kaiser
wieder in Paris wußten, hatten fast alle Marschälle ihre Corps die dreifarbige
Kokarde nehmen lassen, ohne in die frühere Unterwürfigkeit zurücktreten zu
wollen. Nur Victor und Marmont folgten dem Könige, Berthier war nach
Deutschland gegangen, Macdonald blieb als Privatmann in Paris; die andern,
auch Soult, traten wieder in den Dienst des Kaisers.

Die Armee, welche Napoleon vorfand, war zwar sehr viel schwächer,
aber wesentlich besser als diejenige, von der er geschieden war. Sie verdankte
diese qualitative Steigerung der Rückkehr jener kriegsgewohnten alten Garni¬
sonen aus den deutschen Festungen und der großen Menge entlassener Kriegs¬
gefangener. Unter (Anrechnung der von Elba mitgebrachten Truppen verfügte
der Kaiser über 223,972 Mann aller Waffen bei den Fahnen,**) 19,300 Mann
in begrenztem, 30,646 Mann in unbegrenztem Urlaub. Ungeheuer aber waren
die Hilfsquellen an Menschen, welche ihm außer dieser vom Königthums
übernommenen Armee zu Gebote standen.

Im April 1814 wiesen die französischen Armeen von Paris, Lyon, Tou¬
louse und Italien, die Festungsgarnisonen in Frankreich und Belgien, am
Rhein, in Deutschland :e. und die Depots zusammen eine Truppenstärke von
450,000 Mann nach. Der Friede gab Frankreich 130,000 kriegsgefangene
Soldaten zurück. Es disponirte also am 1. April 1815 außer der 280,000
Mann starken activen Armee über 366,000 kriegserfahrene Soldaten,
aus denen es seine Heerschaaren zusammensetzen konnte. Ohne Zweifel waren
durch Verwundung, Krankheit, Tod, „Verheirathung" ?e. diese Zahlen ver-




») v. Rochau a. a. O.
Abgesehen von 8000 Mann in den Lazarethen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0408" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128336"/>
          <p xml:id="ID_1389" prev="#ID_1388"> des Kaiserthums^ward durch eine Militairrevolutionlbewirkt,<lb/>
der sich die Mehrheit der Nation mit kleinmüthiger Ergebung fügte, während<lb/>
ihr eine Minderheit mit aufrichtiger Begeisterung zujauchzte, eine andere<lb/>
Minderheit offenen Widerstand leistete.")</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1390"> Marmont, den Napoleon jetzt mit seinem grimmigsten Haß beehrte, rieth<lb/>
dem Könige, sich mit vielem Geschütz, zuverlässiger Besatzung und Vorräthen<lb/>
in den Tuilerien zu verschanzen. Er war überzeugt, daß es Napoleon auf<lb/>
eine Belagerung mitten in Paris nicht ankommen lassen werde; aber Louis XVIII.<lb/>
ging nicht darauf ein; er reiste in der Nacht ab. Tags darauf, am 19. März,<lb/>
traten die Haustruppen den Marsch nach Norden an, und am Abend des 20.,<lb/>
dem Geburtstage des Königs von Rom, bezog Napoleon die Tuilerien.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1391"> Es galt nun eine abermalige Heeresreorganisation. Das Porte¬<lb/>
feuille des Krieges empfing Davoust, das des Innern Carnot. Von der<lb/>
Grenze Frankreichs aus hatte der König die Armee für aufgelöst erklärt; sie<lb/>
war jedoch natürlich intakt und beisammen geblieben. Seit sie den Kaiser<lb/>
wieder in Paris wußten, hatten fast alle Marschälle ihre Corps die dreifarbige<lb/>
Kokarde nehmen lassen, ohne in die frühere Unterwürfigkeit zurücktreten zu<lb/>
wollen. Nur Victor und Marmont folgten dem Könige, Berthier war nach<lb/>
Deutschland gegangen, Macdonald blieb als Privatmann in Paris; die andern,<lb/>
auch Soult, traten wieder in den Dienst des Kaisers.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1392"> Die Armee, welche Napoleon vorfand, war zwar sehr viel schwächer,<lb/>
aber wesentlich besser als diejenige, von der er geschieden war. Sie verdankte<lb/>
diese qualitative Steigerung der Rückkehr jener kriegsgewohnten alten Garni¬<lb/>
sonen aus den deutschen Festungen und der großen Menge entlassener Kriegs¬<lb/>
gefangener. Unter (Anrechnung der von Elba mitgebrachten Truppen verfügte<lb/>
der Kaiser über 223,972 Mann aller Waffen bei den Fahnen,**) 19,300 Mann<lb/>
in begrenztem, 30,646 Mann in unbegrenztem Urlaub. Ungeheuer aber waren<lb/>
die Hilfsquellen an Menschen, welche ihm außer dieser vom Königthums<lb/>
übernommenen Armee zu Gebote standen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1393" next="#ID_1394"> Im April 1814 wiesen die französischen Armeen von Paris, Lyon, Tou¬<lb/>
louse und Italien, die Festungsgarnisonen in Frankreich und Belgien, am<lb/>
Rhein, in Deutschland :e. und die Depots zusammen eine Truppenstärke von<lb/>
450,000 Mann nach. Der Friede gab Frankreich 130,000 kriegsgefangene<lb/>
Soldaten zurück. Es disponirte also am 1. April 1815 außer der 280,000<lb/>
Mann starken activen Armee über 366,000 kriegserfahrene Soldaten,<lb/>
aus denen es seine Heerschaaren zusammensetzen konnte. Ohne Zweifel waren<lb/>
durch Verwundung, Krankheit, Tod, &#x201E;Verheirathung" ?e. diese Zahlen ver-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_120" place="foot"> ») v. Rochau a. a. O.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_121" place="foot"> Abgesehen von 8000 Mann in den Lazarethen.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0408] des Kaiserthums^ward durch eine Militairrevolutionlbewirkt, der sich die Mehrheit der Nation mit kleinmüthiger Ergebung fügte, während ihr eine Minderheit mit aufrichtiger Begeisterung zujauchzte, eine andere Minderheit offenen Widerstand leistete.") Marmont, den Napoleon jetzt mit seinem grimmigsten Haß beehrte, rieth dem Könige, sich mit vielem Geschütz, zuverlässiger Besatzung und Vorräthen in den Tuilerien zu verschanzen. Er war überzeugt, daß es Napoleon auf eine Belagerung mitten in Paris nicht ankommen lassen werde; aber Louis XVIII. ging nicht darauf ein; er reiste in der Nacht ab. Tags darauf, am 19. März, traten die Haustruppen den Marsch nach Norden an, und am Abend des 20., dem Geburtstage des Königs von Rom, bezog Napoleon die Tuilerien. Es galt nun eine abermalige Heeresreorganisation. Das Porte¬ feuille des Krieges empfing Davoust, das des Innern Carnot. Von der Grenze Frankreichs aus hatte der König die Armee für aufgelöst erklärt; sie war jedoch natürlich intakt und beisammen geblieben. Seit sie den Kaiser wieder in Paris wußten, hatten fast alle Marschälle ihre Corps die dreifarbige Kokarde nehmen lassen, ohne in die frühere Unterwürfigkeit zurücktreten zu wollen. Nur Victor und Marmont folgten dem Könige, Berthier war nach Deutschland gegangen, Macdonald blieb als Privatmann in Paris; die andern, auch Soult, traten wieder in den Dienst des Kaisers. Die Armee, welche Napoleon vorfand, war zwar sehr viel schwächer, aber wesentlich besser als diejenige, von der er geschieden war. Sie verdankte diese qualitative Steigerung der Rückkehr jener kriegsgewohnten alten Garni¬ sonen aus den deutschen Festungen und der großen Menge entlassener Kriegs¬ gefangener. Unter (Anrechnung der von Elba mitgebrachten Truppen verfügte der Kaiser über 223,972 Mann aller Waffen bei den Fahnen,**) 19,300 Mann in begrenztem, 30,646 Mann in unbegrenztem Urlaub. Ungeheuer aber waren die Hilfsquellen an Menschen, welche ihm außer dieser vom Königthums übernommenen Armee zu Gebote standen. Im April 1814 wiesen die französischen Armeen von Paris, Lyon, Tou¬ louse und Italien, die Festungsgarnisonen in Frankreich und Belgien, am Rhein, in Deutschland :e. und die Depots zusammen eine Truppenstärke von 450,000 Mann nach. Der Friede gab Frankreich 130,000 kriegsgefangene Soldaten zurück. Es disponirte also am 1. April 1815 außer der 280,000 Mann starken activen Armee über 366,000 kriegserfahrene Soldaten, aus denen es seine Heerschaaren zusammensetzen konnte. Ohne Zweifel waren durch Verwundung, Krankheit, Tod, „Verheirathung" ?e. diese Zahlen ver- ») v. Rochau a. a. O. Abgesehen von 8000 Mann in den Lazarethen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/408
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/408>, abgerufen am 22.12.2024.