Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Noch viel mehr Mittel fordern die Anstalten, deren das Land zur Hebung
des allgemeinen Wohlstandes bedarf. Der ländliche Arbeiter erhält in Liv-
land durchschnittlich im Verhältniß zu den Lebensbedürfnissen einen außeror¬
dentlich hohen Lohn, wodurch der Reinertrag der Landwirthschaft tief herab¬
gedrückt, und sowohl dem Bauer als dem großen Gutsbesitzer die Mög-
lichkeit genommen wird, zu größerem Wohlstande zu gelangen. Dennoch wan¬
dert der Arbeiter noch immer oft nach Jnnerrußland, obgleich der Lohnsatz
da viel geringer ist; aber er hat dort eher Gelegenheit, ein eignes Besitzthum
zu erwerben, während in Livland kleinere, als die ansehnlichen Bauerhöfe,
nicht zu haben sind. Um dem Lande diese Arbeitskräfte zu erhalten, empfiehlt
es sich, größere Meliorationen vorzunehmen und auf dem dadurch gewonnenen
fruchtbaren Lande Ansiedelungen von Kleinbauern anzulegen. Manche solcher
Arbeiten sind schon seit manchem Jahrzehnt projectirt, wie z. B. die Ablassung
des Wazjerwje-Sees. Die Neichsregierung hat zu diesen Arbeiten bisher kein
Geld gehabt, die Provinz dagegen glaubte sich dazu allein zu schwach. Aber
das Bedürfniß wird immer dringender, die Ritterschaft von Livland muß und
wird die Ausführung mit eignen Kräften versuchen.

Auch die Verbreitung der Kenntnisse eines zweckmäßigeren und zeitge¬
mäßeren Ackerbaubetriebes ist dringend nothwendig einerseits für die Gesinde¬
wirthe, um die eigne Wirthschaft in besseren Gang zu setzen, anderseits für
die Großgrundbesitzer, um befähigtere Beamte und Aufseher zu erlangen. Als
Mittel dazu sollen Ackerbauschulen, landwirtschaftliche Wanderlehrer, "wan¬
dernde Pflugleute" u. f. w. dienen, welche auf Landeskosten unterhalten werden.
Daneben heben wir die Verkehrswege hervor, über deren große Mängel sehr
geklagt wird und welche nebst vielen andern Gegenständen der Landesver-
waltung einer ansehnlichen Erweiterung, Hebung und Verbesserung bedürfen.
Die Livländer fühlen sich dazu aber um so mehr gedrungen, als ein Nachbar¬
land, welches noch mehr, als ihr Heimathland, unter den Schwierigkeiten des
nordischen Klimas zu leiden hat, Finnland, ihnen mit gutem Beispiel voran¬
gegangen ist, indem es durch Selbstbesteuerung die Mittel aufbrachte, große
Culturarbeiten, Straßen- und Canalbauten zu unternehmen, Gewerbe-, land¬
wirtschaftliche und Volks-Schulen zu errichten und so in verhältnißmäßig
wenigen Jahren den Wohlstand und den geistigen Bildungsstand auf eine bis
dahin nicht für möglich gehaltene Höhe zu heben.

Die Einsicht von der Nothwendigkeit der Einführung einer neuen und
auf den Adel auszudehnenden Steuer für die Bedürfnisse des Herzogthums ist
bei der livländischen Ritterschaft nicht neu, sie ist schon mindestens ein Jahr¬
zehnt zum Durchbruch gekommen. Wenn bisher dennoch nicht zur Ausführung
der Maßregel geschritten worden ist, so liegt das nicht an dem guten Willen
der Ritterschaft, sondern an den eigenthümlichen Schwierigkeiten aller Reformen


Noch viel mehr Mittel fordern die Anstalten, deren das Land zur Hebung
des allgemeinen Wohlstandes bedarf. Der ländliche Arbeiter erhält in Liv-
land durchschnittlich im Verhältniß zu den Lebensbedürfnissen einen außeror¬
dentlich hohen Lohn, wodurch der Reinertrag der Landwirthschaft tief herab¬
gedrückt, und sowohl dem Bauer als dem großen Gutsbesitzer die Mög-
lichkeit genommen wird, zu größerem Wohlstande zu gelangen. Dennoch wan¬
dert der Arbeiter noch immer oft nach Jnnerrußland, obgleich der Lohnsatz
da viel geringer ist; aber er hat dort eher Gelegenheit, ein eignes Besitzthum
zu erwerben, während in Livland kleinere, als die ansehnlichen Bauerhöfe,
nicht zu haben sind. Um dem Lande diese Arbeitskräfte zu erhalten, empfiehlt
es sich, größere Meliorationen vorzunehmen und auf dem dadurch gewonnenen
fruchtbaren Lande Ansiedelungen von Kleinbauern anzulegen. Manche solcher
Arbeiten sind schon seit manchem Jahrzehnt projectirt, wie z. B. die Ablassung
des Wazjerwje-Sees. Die Neichsregierung hat zu diesen Arbeiten bisher kein
Geld gehabt, die Provinz dagegen glaubte sich dazu allein zu schwach. Aber
das Bedürfniß wird immer dringender, die Ritterschaft von Livland muß und
wird die Ausführung mit eignen Kräften versuchen.

Auch die Verbreitung der Kenntnisse eines zweckmäßigeren und zeitge¬
mäßeren Ackerbaubetriebes ist dringend nothwendig einerseits für die Gesinde¬
wirthe, um die eigne Wirthschaft in besseren Gang zu setzen, anderseits für
die Großgrundbesitzer, um befähigtere Beamte und Aufseher zu erlangen. Als
Mittel dazu sollen Ackerbauschulen, landwirtschaftliche Wanderlehrer, „wan¬
dernde Pflugleute" u. f. w. dienen, welche auf Landeskosten unterhalten werden.
Daneben heben wir die Verkehrswege hervor, über deren große Mängel sehr
geklagt wird und welche nebst vielen andern Gegenständen der Landesver-
waltung einer ansehnlichen Erweiterung, Hebung und Verbesserung bedürfen.
Die Livländer fühlen sich dazu aber um so mehr gedrungen, als ein Nachbar¬
land, welches noch mehr, als ihr Heimathland, unter den Schwierigkeiten des
nordischen Klimas zu leiden hat, Finnland, ihnen mit gutem Beispiel voran¬
gegangen ist, indem es durch Selbstbesteuerung die Mittel aufbrachte, große
Culturarbeiten, Straßen- und Canalbauten zu unternehmen, Gewerbe-, land¬
wirtschaftliche und Volks-Schulen zu errichten und so in verhältnißmäßig
wenigen Jahren den Wohlstand und den geistigen Bildungsstand auf eine bis
dahin nicht für möglich gehaltene Höhe zu heben.

Die Einsicht von der Nothwendigkeit der Einführung einer neuen und
auf den Adel auszudehnenden Steuer für die Bedürfnisse des Herzogthums ist
bei der livländischen Ritterschaft nicht neu, sie ist schon mindestens ein Jahr¬
zehnt zum Durchbruch gekommen. Wenn bisher dennoch nicht zur Ausführung
der Maßregel geschritten worden ist, so liegt das nicht an dem guten Willen
der Ritterschaft, sondern an den eigenthümlichen Schwierigkeiten aller Reformen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0039" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/127967"/>
          <p xml:id="ID_89"> Noch viel mehr Mittel fordern die Anstalten, deren das Land zur Hebung<lb/>
des allgemeinen Wohlstandes bedarf. Der ländliche Arbeiter erhält in Liv-<lb/>
land durchschnittlich im Verhältniß zu den Lebensbedürfnissen einen außeror¬<lb/>
dentlich hohen Lohn, wodurch der Reinertrag der Landwirthschaft tief herab¬<lb/>
gedrückt, und sowohl dem Bauer als dem großen Gutsbesitzer die Mög-<lb/>
lichkeit genommen wird, zu größerem Wohlstande zu gelangen. Dennoch wan¬<lb/>
dert der Arbeiter noch immer oft nach Jnnerrußland, obgleich der Lohnsatz<lb/>
da viel geringer ist; aber er hat dort eher Gelegenheit, ein eignes Besitzthum<lb/>
zu erwerben, während in Livland kleinere, als die ansehnlichen Bauerhöfe,<lb/>
nicht zu haben sind. Um dem Lande diese Arbeitskräfte zu erhalten, empfiehlt<lb/>
es sich, größere Meliorationen vorzunehmen und auf dem dadurch gewonnenen<lb/>
fruchtbaren Lande Ansiedelungen von Kleinbauern anzulegen. Manche solcher<lb/>
Arbeiten sind schon seit manchem Jahrzehnt projectirt, wie z. B. die Ablassung<lb/>
des Wazjerwje-Sees. Die Neichsregierung hat zu diesen Arbeiten bisher kein<lb/>
Geld gehabt, die Provinz dagegen glaubte sich dazu allein zu schwach. Aber<lb/>
das Bedürfniß wird immer dringender, die Ritterschaft von Livland muß und<lb/>
wird die Ausführung mit eignen Kräften versuchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_90"> Auch die Verbreitung der Kenntnisse eines zweckmäßigeren und zeitge¬<lb/>
mäßeren Ackerbaubetriebes ist dringend nothwendig einerseits für die Gesinde¬<lb/>
wirthe, um die eigne Wirthschaft in besseren Gang zu setzen, anderseits für<lb/>
die Großgrundbesitzer, um befähigtere Beamte und Aufseher zu erlangen. Als<lb/>
Mittel dazu sollen Ackerbauschulen, landwirtschaftliche Wanderlehrer, &#x201E;wan¬<lb/>
dernde Pflugleute" u. f. w. dienen, welche auf Landeskosten unterhalten werden.<lb/>
Daneben heben wir die Verkehrswege hervor, über deren große Mängel sehr<lb/>
geklagt wird und welche nebst vielen andern Gegenständen der Landesver-<lb/>
waltung einer ansehnlichen Erweiterung, Hebung und Verbesserung bedürfen.<lb/>
Die Livländer fühlen sich dazu aber um so mehr gedrungen, als ein Nachbar¬<lb/>
land, welches noch mehr, als ihr Heimathland, unter den Schwierigkeiten des<lb/>
nordischen Klimas zu leiden hat, Finnland, ihnen mit gutem Beispiel voran¬<lb/>
gegangen ist, indem es durch Selbstbesteuerung die Mittel aufbrachte, große<lb/>
Culturarbeiten, Straßen- und Canalbauten zu unternehmen, Gewerbe-, land¬<lb/>
wirtschaftliche und Volks-Schulen zu errichten und so in verhältnißmäßig<lb/>
wenigen Jahren den Wohlstand und den geistigen Bildungsstand auf eine bis<lb/>
dahin nicht für möglich gehaltene Höhe zu heben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_91" next="#ID_92"> Die Einsicht von der Nothwendigkeit der Einführung einer neuen und<lb/>
auf den Adel auszudehnenden Steuer für die Bedürfnisse des Herzogthums ist<lb/>
bei der livländischen Ritterschaft nicht neu, sie ist schon mindestens ein Jahr¬<lb/>
zehnt zum Durchbruch gekommen. Wenn bisher dennoch nicht zur Ausführung<lb/>
der Maßregel geschritten worden ist, so liegt das nicht an dem guten Willen<lb/>
der Ritterschaft, sondern an den eigenthümlichen Schwierigkeiten aller Reformen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0039] Noch viel mehr Mittel fordern die Anstalten, deren das Land zur Hebung des allgemeinen Wohlstandes bedarf. Der ländliche Arbeiter erhält in Liv- land durchschnittlich im Verhältniß zu den Lebensbedürfnissen einen außeror¬ dentlich hohen Lohn, wodurch der Reinertrag der Landwirthschaft tief herab¬ gedrückt, und sowohl dem Bauer als dem großen Gutsbesitzer die Mög- lichkeit genommen wird, zu größerem Wohlstande zu gelangen. Dennoch wan¬ dert der Arbeiter noch immer oft nach Jnnerrußland, obgleich der Lohnsatz da viel geringer ist; aber er hat dort eher Gelegenheit, ein eignes Besitzthum zu erwerben, während in Livland kleinere, als die ansehnlichen Bauerhöfe, nicht zu haben sind. Um dem Lande diese Arbeitskräfte zu erhalten, empfiehlt es sich, größere Meliorationen vorzunehmen und auf dem dadurch gewonnenen fruchtbaren Lande Ansiedelungen von Kleinbauern anzulegen. Manche solcher Arbeiten sind schon seit manchem Jahrzehnt projectirt, wie z. B. die Ablassung des Wazjerwje-Sees. Die Neichsregierung hat zu diesen Arbeiten bisher kein Geld gehabt, die Provinz dagegen glaubte sich dazu allein zu schwach. Aber das Bedürfniß wird immer dringender, die Ritterschaft von Livland muß und wird die Ausführung mit eignen Kräften versuchen. Auch die Verbreitung der Kenntnisse eines zweckmäßigeren und zeitge¬ mäßeren Ackerbaubetriebes ist dringend nothwendig einerseits für die Gesinde¬ wirthe, um die eigne Wirthschaft in besseren Gang zu setzen, anderseits für die Großgrundbesitzer, um befähigtere Beamte und Aufseher zu erlangen. Als Mittel dazu sollen Ackerbauschulen, landwirtschaftliche Wanderlehrer, „wan¬ dernde Pflugleute" u. f. w. dienen, welche auf Landeskosten unterhalten werden. Daneben heben wir die Verkehrswege hervor, über deren große Mängel sehr geklagt wird und welche nebst vielen andern Gegenständen der Landesver- waltung einer ansehnlichen Erweiterung, Hebung und Verbesserung bedürfen. Die Livländer fühlen sich dazu aber um so mehr gedrungen, als ein Nachbar¬ land, welches noch mehr, als ihr Heimathland, unter den Schwierigkeiten des nordischen Klimas zu leiden hat, Finnland, ihnen mit gutem Beispiel voran¬ gegangen ist, indem es durch Selbstbesteuerung die Mittel aufbrachte, große Culturarbeiten, Straßen- und Canalbauten zu unternehmen, Gewerbe-, land¬ wirtschaftliche und Volks-Schulen zu errichten und so in verhältnißmäßig wenigen Jahren den Wohlstand und den geistigen Bildungsstand auf eine bis dahin nicht für möglich gehaltene Höhe zu heben. Die Einsicht von der Nothwendigkeit der Einführung einer neuen und auf den Adel auszudehnenden Steuer für die Bedürfnisse des Herzogthums ist bei der livländischen Ritterschaft nicht neu, sie ist schon mindestens ein Jahr¬ zehnt zum Durchbruch gekommen. Wenn bisher dennoch nicht zur Ausführung der Maßregel geschritten worden ist, so liegt das nicht an dem guten Willen der Ritterschaft, sondern an den eigenthümlichen Schwierigkeiten aller Reformen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/39
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/39>, abgerufen am 22.07.2024.