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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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und zu ihrer Erhöhung besitzt die Ritterschaft weder ein Recht, noch läßt sie
sich politisch irgend rechtfertigen. Es bleibt nichts anderes übrig, als die Er¬
öffnung einer neuen Steuerquelle. Diese Gelegenheit muß und wird benutzt
werden, um dem gehässigen Standesprivilegium der Steuerfreiheit ein Ende
zu machen.

Ehe wir auf die einschlagenden Vorschläge und Anträge näher eingehen,
seien noch die hauptsächlichsten Landesbedürfnisse namhaft gemacht, auf welche
die neuen Einnahmen verwendet werden sollen. Den ersten Platz nimmt unter
ihnen die Rechtspflege ein. Es wird von niemand, am wenigsten von den
Livländern selbst, bestritten, daß die provinziale Gerichtsverfassung und die
Prozeßordnung veraltet sind. Der Instanzenzug ist ungewöhnlich lang,
macht also den Rechtsweg sehr langwierig und befördert die Prozeßsucht. Die
Rechtspflege ist nicht von der Verwaltung getrennt, außer in dem Obergericht
des Landes, dem sogenannten ..Hofgericht" in Riga. In dem obersten Ge¬
richtshofe, den die Provinz mit dem ganzen Reich gemeinsam hat, tritt
die Vereinigung wieder ein, was zu ändern naturgemäß ganz außer der Macht
der livländischen Stände liegt. Für die Anstellung als Richter ist eine wissen¬
schaftliche Fachbildung nicht erforderlich und kann auch so lange nicht verlangt
werden, als die Aemter gar nicht oder doch nur unzulänglich besoldet werden.
Das Verfahren ist noch das schriftliche und ermangelt der Oeffentlichkeit. Bei
schweren Anklagesachen werden keine Geschworne hinzugezogen, und was der
Mängel mehr sind. Es ist kein Zweifel, daß die russische Rechtsordnung vin
dieser livländischen große Vorzüge besitzt, daß sie besonders den wissenschaft¬
lichen Prinzipien und Errungenschaften des Jahrhunderts Rechnung trägt.
Wenn die livländische Ritterschaft dennoch ihrer Einführung in das Herzog¬
tum, welche von der russischen Regierung seit einem Jahrzehnt betrieben
wird, mit Entschiedenheit widerstrebt, so läßt sie sich leiten einzig durch das
gewichtige und begründete Bedenken, daß Livland die anerkannten Vorzüge in
der Form der Rechtspflege durch die schwersten und unersetzlichsten Einbußen
in dem Wesen derselben erkaufen würde, daß mit der Einführung der russischen
Rechtsordnung die provinziale Selbständigkeit der Rechtspflege aufhören, die
Richter aus Jnnerrußland dorthin geschickt, mit ihnen die russische Sprache
und die russische Bestechlichkeit eingeführt, die bisher so fest aufrechtgehaltene
Rechtssicherheit zu Ende gehen würde. Indem die Ritterschaft aber jener in
der Form höher stehenden Rechtsordnung den Eingang in das Land verweigert,
nimmt sie auch die Verpflichtung auf sich, aus eigner Kraft der einheimischen
Rechtspflege eine Form zu geben, welche jener nicht nachsteht. Sie muß sich
dieser Pflicht bewußt sein, und der erste Schritt, den sie nach diesem Ziele zu
thun im Begriffe steht, ist die Aufbringung der Mittel, welche jene Reform
nöthig macht.


und zu ihrer Erhöhung besitzt die Ritterschaft weder ein Recht, noch läßt sie
sich politisch irgend rechtfertigen. Es bleibt nichts anderes übrig, als die Er¬
öffnung einer neuen Steuerquelle. Diese Gelegenheit muß und wird benutzt
werden, um dem gehässigen Standesprivilegium der Steuerfreiheit ein Ende
zu machen.

Ehe wir auf die einschlagenden Vorschläge und Anträge näher eingehen,
seien noch die hauptsächlichsten Landesbedürfnisse namhaft gemacht, auf welche
die neuen Einnahmen verwendet werden sollen. Den ersten Platz nimmt unter
ihnen die Rechtspflege ein. Es wird von niemand, am wenigsten von den
Livländern selbst, bestritten, daß die provinziale Gerichtsverfassung und die
Prozeßordnung veraltet sind. Der Instanzenzug ist ungewöhnlich lang,
macht also den Rechtsweg sehr langwierig und befördert die Prozeßsucht. Die
Rechtspflege ist nicht von der Verwaltung getrennt, außer in dem Obergericht
des Landes, dem sogenannten ..Hofgericht" in Riga. In dem obersten Ge¬
richtshofe, den die Provinz mit dem ganzen Reich gemeinsam hat, tritt
die Vereinigung wieder ein, was zu ändern naturgemäß ganz außer der Macht
der livländischen Stände liegt. Für die Anstellung als Richter ist eine wissen¬
schaftliche Fachbildung nicht erforderlich und kann auch so lange nicht verlangt
werden, als die Aemter gar nicht oder doch nur unzulänglich besoldet werden.
Das Verfahren ist noch das schriftliche und ermangelt der Oeffentlichkeit. Bei
schweren Anklagesachen werden keine Geschworne hinzugezogen, und was der
Mängel mehr sind. Es ist kein Zweifel, daß die russische Rechtsordnung vin
dieser livländischen große Vorzüge besitzt, daß sie besonders den wissenschaft¬
lichen Prinzipien und Errungenschaften des Jahrhunderts Rechnung trägt.
Wenn die livländische Ritterschaft dennoch ihrer Einführung in das Herzog¬
tum, welche von der russischen Regierung seit einem Jahrzehnt betrieben
wird, mit Entschiedenheit widerstrebt, so läßt sie sich leiten einzig durch das
gewichtige und begründete Bedenken, daß Livland die anerkannten Vorzüge in
der Form der Rechtspflege durch die schwersten und unersetzlichsten Einbußen
in dem Wesen derselben erkaufen würde, daß mit der Einführung der russischen
Rechtsordnung die provinziale Selbständigkeit der Rechtspflege aufhören, die
Richter aus Jnnerrußland dorthin geschickt, mit ihnen die russische Sprache
und die russische Bestechlichkeit eingeführt, die bisher so fest aufrechtgehaltene
Rechtssicherheit zu Ende gehen würde. Indem die Ritterschaft aber jener in
der Form höher stehenden Rechtsordnung den Eingang in das Land verweigert,
nimmt sie auch die Verpflichtung auf sich, aus eigner Kraft der einheimischen
Rechtspflege eine Form zu geben, welche jener nicht nachsteht. Sie muß sich
dieser Pflicht bewußt sein, und der erste Schritt, den sie nach diesem Ziele zu
thun im Begriffe steht, ist die Aufbringung der Mittel, welche jene Reform
nöthig macht.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/38>, abgerufen am 22.07.2024.