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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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minister Narre des Verraths; er betheuerte, daß man überall, wo er nicht
persönlich anwesend sei, nur Dummheiten mache, und befahl den Truppen
unverzüglich nach Paris umzukehren. Aber die Generale gingen mit
ihm um, als ob er unzurechnungsfähig sei. Niemand gehorchte! Nie¬
mand hatte Lust, mit ihm nach Paris zurückzukehren. Laut und
heftig stellte man ihm die Unmöglichkeit vor, die Stadt zu halten, nachdem
die Höhen in den Händen des Feindes seien; die abgezogenen Truppen ver¬
weigerten es zum Theil geradezu, die Kapitulation zu brechen. Seine Unter¬
feldherrn zwangen ihm ihren Willen auf. Er kehrte nach Fontainebleau
zurück.*)

Die Idee, das Volk von Paris zur Erhebung aufzurufen, zeigt deutlich,
wie wenig Napoleon es kannte. Die Vertheidigung der Hauptstadt war le¬
diglich durch Marmont's und Mortier's Truppen geschehen, die (seltsamerweise)
ganz gegen des Kaisers Willen und Befehl zur Stelle waren. Wäre es nach ihm,
d. h. nach seinen Maßnahmen, gegangen, so hätte gar keine Vertheidigung
stattfinden können. Von Seiten König Joseph's war ihm freilich wiederholt
gemeldet, daß keine Waffen vorhanden, daß in ganz Paris nicht Tau¬
send Freiwillige aufzutreiben seien, die Lust hätten, ins freie
Feld zu ziehen; Napoleon hatte aber keine Abhülfe geschafft und hatte sie
auch nicht schaffen können. Wol prahlten die Zeitungen mit den Rüstungen
der Stadt, die eine ungeheuere Werkstätte geworden sei, mit der Gesinnung
der Vorstädte, deren jede dem Feinde ein Heer kosten werde, mit der Macht
der Nationalgarde; die wirkliche Sachlage war ganz anderer Art. Der Geist
der Arbeiterquartiere, war nichts weniger als imperialistisch. Ueber die ewig
wiederkehrenden Conscriptionen, über die verhaßten al-ans r6no8 zeigten sie
sich nicht weniger empört als das ganze übrige Frankreich; was sich hier
regte, waren die Erinnerungen und der Geist von 1793. Das wußten die
Bonapartisten, zumal der Polizeiminister Savary, sehr wol, und darum er-
schracken sie vor dem Gedanken, den wilden Republikanern der Vorstädte Waf¬
fen zu geben -- selbst wenn man deren gehabt hätte. -- Was die Natio¬
nalgarde betraf, so war sie von Anfang an übel gelaunt. Der Argwohn,
daß man es mit ihr auf eine Conscription abgesehen habe, war ihr nie ganz
vergangen. Auch unter Marschall Moncey hatte sie sich kaum zu einer wah¬
ren Truppe gebildet; namentlich ist die Bewaffnung niemals ausreichend ge¬
wesen, und so haben denn in der Schlacht von Paris auch thatsächlich höch¬
stens 6000 Mann Nationalgarde theils wirklich gefochten, theils wenigstens



") v. Bernhardt a. a, O.

minister Narre des Verraths; er betheuerte, daß man überall, wo er nicht
persönlich anwesend sei, nur Dummheiten mache, und befahl den Truppen
unverzüglich nach Paris umzukehren. Aber die Generale gingen mit
ihm um, als ob er unzurechnungsfähig sei. Niemand gehorchte! Nie¬
mand hatte Lust, mit ihm nach Paris zurückzukehren. Laut und
heftig stellte man ihm die Unmöglichkeit vor, die Stadt zu halten, nachdem
die Höhen in den Händen des Feindes seien; die abgezogenen Truppen ver¬
weigerten es zum Theil geradezu, die Kapitulation zu brechen. Seine Unter¬
feldherrn zwangen ihm ihren Willen auf. Er kehrte nach Fontainebleau
zurück.*)

Die Idee, das Volk von Paris zur Erhebung aufzurufen, zeigt deutlich,
wie wenig Napoleon es kannte. Die Vertheidigung der Hauptstadt war le¬
diglich durch Marmont's und Mortier's Truppen geschehen, die (seltsamerweise)
ganz gegen des Kaisers Willen und Befehl zur Stelle waren. Wäre es nach ihm,
d. h. nach seinen Maßnahmen, gegangen, so hätte gar keine Vertheidigung
stattfinden können. Von Seiten König Joseph's war ihm freilich wiederholt
gemeldet, daß keine Waffen vorhanden, daß in ganz Paris nicht Tau¬
send Freiwillige aufzutreiben seien, die Lust hätten, ins freie
Feld zu ziehen; Napoleon hatte aber keine Abhülfe geschafft und hatte sie
auch nicht schaffen können. Wol prahlten die Zeitungen mit den Rüstungen
der Stadt, die eine ungeheuere Werkstätte geworden sei, mit der Gesinnung
der Vorstädte, deren jede dem Feinde ein Heer kosten werde, mit der Macht
der Nationalgarde; die wirkliche Sachlage war ganz anderer Art. Der Geist
der Arbeiterquartiere, war nichts weniger als imperialistisch. Ueber die ewig
wiederkehrenden Conscriptionen, über die verhaßten al-ans r6no8 zeigten sie
sich nicht weniger empört als das ganze übrige Frankreich; was sich hier
regte, waren die Erinnerungen und der Geist von 1793. Das wußten die
Bonapartisten, zumal der Polizeiminister Savary, sehr wol, und darum er-
schracken sie vor dem Gedanken, den wilden Republikanern der Vorstädte Waf¬
fen zu geben — selbst wenn man deren gehabt hätte. — Was die Natio¬
nalgarde betraf, so war sie von Anfang an übel gelaunt. Der Argwohn,
daß man es mit ihr auf eine Conscription abgesehen habe, war ihr nie ganz
vergangen. Auch unter Marschall Moncey hatte sie sich kaum zu einer wah¬
ren Truppe gebildet; namentlich ist die Bewaffnung niemals ausreichend ge¬
wesen, und so haben denn in der Schlacht von Paris auch thatsächlich höch¬
stens 6000 Mann Nationalgarde theils wirklich gefochten, theils wenigstens



") v. Bernhardt a. a, O.
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[0374] minister Narre des Verraths; er betheuerte, daß man überall, wo er nicht persönlich anwesend sei, nur Dummheiten mache, und befahl den Truppen unverzüglich nach Paris umzukehren. Aber die Generale gingen mit ihm um, als ob er unzurechnungsfähig sei. Niemand gehorchte! Nie¬ mand hatte Lust, mit ihm nach Paris zurückzukehren. Laut und heftig stellte man ihm die Unmöglichkeit vor, die Stadt zu halten, nachdem die Höhen in den Händen des Feindes seien; die abgezogenen Truppen ver¬ weigerten es zum Theil geradezu, die Kapitulation zu brechen. Seine Unter¬ feldherrn zwangen ihm ihren Willen auf. Er kehrte nach Fontainebleau zurück.*) Die Idee, das Volk von Paris zur Erhebung aufzurufen, zeigt deutlich, wie wenig Napoleon es kannte. Die Vertheidigung der Hauptstadt war le¬ diglich durch Marmont's und Mortier's Truppen geschehen, die (seltsamerweise) ganz gegen des Kaisers Willen und Befehl zur Stelle waren. Wäre es nach ihm, d. h. nach seinen Maßnahmen, gegangen, so hätte gar keine Vertheidigung stattfinden können. Von Seiten König Joseph's war ihm freilich wiederholt gemeldet, daß keine Waffen vorhanden, daß in ganz Paris nicht Tau¬ send Freiwillige aufzutreiben seien, die Lust hätten, ins freie Feld zu ziehen; Napoleon hatte aber keine Abhülfe geschafft und hatte sie auch nicht schaffen können. Wol prahlten die Zeitungen mit den Rüstungen der Stadt, die eine ungeheuere Werkstätte geworden sei, mit der Gesinnung der Vorstädte, deren jede dem Feinde ein Heer kosten werde, mit der Macht der Nationalgarde; die wirkliche Sachlage war ganz anderer Art. Der Geist der Arbeiterquartiere, war nichts weniger als imperialistisch. Ueber die ewig wiederkehrenden Conscriptionen, über die verhaßten al-ans r6no8 zeigten sie sich nicht weniger empört als das ganze übrige Frankreich; was sich hier regte, waren die Erinnerungen und der Geist von 1793. Das wußten die Bonapartisten, zumal der Polizeiminister Savary, sehr wol, und darum er- schracken sie vor dem Gedanken, den wilden Republikanern der Vorstädte Waf¬ fen zu geben — selbst wenn man deren gehabt hätte. — Was die Natio¬ nalgarde betraf, so war sie von Anfang an übel gelaunt. Der Argwohn, daß man es mit ihr auf eine Conscription abgesehen habe, war ihr nie ganz vergangen. Auch unter Marschall Moncey hatte sie sich kaum zu einer wah¬ ren Truppe gebildet; namentlich ist die Bewaffnung niemals ausreichend ge¬ wesen, und so haben denn in der Schlacht von Paris auch thatsächlich höch¬ stens 6000 Mann Nationalgarde theils wirklich gefochten, theils wenigstens ") v. Bernhardt a. a, O.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/374>, abgerufen am 22.12.2024.