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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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die eiserne Krone erwerben werde. -- Mouche und Talleyrand, die schon im
Jahre 1809 eine zweideutige Haltung gezeigt, zettelten allerhand Intriguen
an. Sie dachten an eine Thronentsagung Napoleon's und eine Regentschaft
der Kaiserin, bei welcher sie die Herrn zu werden hofften. -- Aehnliche Strö¬
mungen waren auch im Heere herrschend. Selbst die Feldherrn, die Napoleon
mit Gnaden überhäuft und zu großen Herren gemacht, mißbilligten sein Thun
und sehnten sich danach, der erworbenen Güter endlich in Ruhe froh zu wer¬
den. Und das war natürlich genug. Wie durfte auch dieser Imperator, der
sich mit cynischer Offenheit dazu bekannte, daß er nur die gemeine Selbstsucht
als Beweggrund alles menschlichen Thuns betrachte, wie durfte er jetzt eine
ideale Hingabe an seine Sache von denen verlangen, die nichts mehr dabei
gewinnen, wahrscheinlich aber alles verlieren konnten? -- Wie edel steht all'
dem gegenüber das Verhalten Carnot's. Dieser, der sich seit 1807 ins Pri¬
vatleben zurückgezogen hatte, bot in dem jetzigen schweren Augenblicke dem
Kaiser seinen Degen an. Napoleon wagte es nicht, ihn zurück zu weisen,
aber er übertrug ihm kein Kommando im freien Felde, sondern die Verthei¬
digung von Antwerpen.

Es war Napoleon's feste Hoffnung gewesen, daß die Verbündeten keinen
Winterfeldzug unternehmen und ihm Zeit lassen würden zu Neuorganisatio¬
nen. Er kannte seine Gegner, und man weiß, daß er ohne die treibenden
Mächte des Blücher'schen Hauptquartiers vollauf Recht behalten haben würde.
War doch jetzt schon durch das Zaudern und Schwanken, zumal der österrei¬
chischen Politik, eine kostbare Zeit verloren gegangen. "Konnte gar," sagt
Marmont*), der ganze Winter der Bildung einer Armee gewidmet werden,
so würden-wir im Frühjahr, wenigstens an Zahl imposante Kräfte aufge¬
stellt haben." Dennoch war sich grade Marmont klar über die Wahrschein¬
lichkeit einer baldigen und directen Operation auf Paris: als er aber Anfangs
November einmal dem Kaiser diesen Gedanken äußerte, rief jener zürnend
aus, das sei ein "unsinniges Project." Zu sehr hatte er sich gewöhnt, auf
die Langsamkeit und die Fehler seiner Gegner zu rechnen; seit Jahren schon
nahm er sie als regelmäßige hochwerthige Factoren in seinen Calcul auf, und
grade seit dieser Zeit verrechnete er sich am häufigsten. Er hatte sich auch
diesmal verrechnet. Verspätet zwar vom militärischen Standpunkt, aber doch
immer noch früh genug, um es in seinen Rüstungen zu stören, brachen die
Verbündeten in Frankreich ein.

Als die Gefahr näher rückte, ein Winterfeldzug nicht mehr zu bezweifeln
war, dachte Napoleon daran, die unmittelbaren Streitkräfte schleunig zu ver¬
mehren. Soult, der die Reste der bisher in Spanien verwendeten



') Nönwirss nu AlarveKal Duo ä<z Rsguse.

die eiserne Krone erwerben werde. — Mouche und Talleyrand, die schon im
Jahre 1809 eine zweideutige Haltung gezeigt, zettelten allerhand Intriguen
an. Sie dachten an eine Thronentsagung Napoleon's und eine Regentschaft
der Kaiserin, bei welcher sie die Herrn zu werden hofften. — Aehnliche Strö¬
mungen waren auch im Heere herrschend. Selbst die Feldherrn, die Napoleon
mit Gnaden überhäuft und zu großen Herren gemacht, mißbilligten sein Thun
und sehnten sich danach, der erworbenen Güter endlich in Ruhe froh zu wer¬
den. Und das war natürlich genug. Wie durfte auch dieser Imperator, der
sich mit cynischer Offenheit dazu bekannte, daß er nur die gemeine Selbstsucht
als Beweggrund alles menschlichen Thuns betrachte, wie durfte er jetzt eine
ideale Hingabe an seine Sache von denen verlangen, die nichts mehr dabei
gewinnen, wahrscheinlich aber alles verlieren konnten? — Wie edel steht all'
dem gegenüber das Verhalten Carnot's. Dieser, der sich seit 1807 ins Pri¬
vatleben zurückgezogen hatte, bot in dem jetzigen schweren Augenblicke dem
Kaiser seinen Degen an. Napoleon wagte es nicht, ihn zurück zu weisen,
aber er übertrug ihm kein Kommando im freien Felde, sondern die Verthei¬
digung von Antwerpen.

Es war Napoleon's feste Hoffnung gewesen, daß die Verbündeten keinen
Winterfeldzug unternehmen und ihm Zeit lassen würden zu Neuorganisatio¬
nen. Er kannte seine Gegner, und man weiß, daß er ohne die treibenden
Mächte des Blücher'schen Hauptquartiers vollauf Recht behalten haben würde.
War doch jetzt schon durch das Zaudern und Schwanken, zumal der österrei¬
chischen Politik, eine kostbare Zeit verloren gegangen. „Konnte gar," sagt
Marmont*), der ganze Winter der Bildung einer Armee gewidmet werden,
so würden-wir im Frühjahr, wenigstens an Zahl imposante Kräfte aufge¬
stellt haben." Dennoch war sich grade Marmont klar über die Wahrschein¬
lichkeit einer baldigen und directen Operation auf Paris: als er aber Anfangs
November einmal dem Kaiser diesen Gedanken äußerte, rief jener zürnend
aus, das sei ein „unsinniges Project." Zu sehr hatte er sich gewöhnt, auf
die Langsamkeit und die Fehler seiner Gegner zu rechnen; seit Jahren schon
nahm er sie als regelmäßige hochwerthige Factoren in seinen Calcul auf, und
grade seit dieser Zeit verrechnete er sich am häufigsten. Er hatte sich auch
diesmal verrechnet. Verspätet zwar vom militärischen Standpunkt, aber doch
immer noch früh genug, um es in seinen Rüstungen zu stören, brachen die
Verbündeten in Frankreich ein.

Als die Gefahr näher rückte, ein Winterfeldzug nicht mehr zu bezweifeln
war, dachte Napoleon daran, die unmittelbaren Streitkräfte schleunig zu ver¬
mehren. Soult, der die Reste der bisher in Spanien verwendeten



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[0366] die eiserne Krone erwerben werde. — Mouche und Talleyrand, die schon im Jahre 1809 eine zweideutige Haltung gezeigt, zettelten allerhand Intriguen an. Sie dachten an eine Thronentsagung Napoleon's und eine Regentschaft der Kaiserin, bei welcher sie die Herrn zu werden hofften. — Aehnliche Strö¬ mungen waren auch im Heere herrschend. Selbst die Feldherrn, die Napoleon mit Gnaden überhäuft und zu großen Herren gemacht, mißbilligten sein Thun und sehnten sich danach, der erworbenen Güter endlich in Ruhe froh zu wer¬ den. Und das war natürlich genug. Wie durfte auch dieser Imperator, der sich mit cynischer Offenheit dazu bekannte, daß er nur die gemeine Selbstsucht als Beweggrund alles menschlichen Thuns betrachte, wie durfte er jetzt eine ideale Hingabe an seine Sache von denen verlangen, die nichts mehr dabei gewinnen, wahrscheinlich aber alles verlieren konnten? — Wie edel steht all' dem gegenüber das Verhalten Carnot's. Dieser, der sich seit 1807 ins Pri¬ vatleben zurückgezogen hatte, bot in dem jetzigen schweren Augenblicke dem Kaiser seinen Degen an. Napoleon wagte es nicht, ihn zurück zu weisen, aber er übertrug ihm kein Kommando im freien Felde, sondern die Verthei¬ digung von Antwerpen. Es war Napoleon's feste Hoffnung gewesen, daß die Verbündeten keinen Winterfeldzug unternehmen und ihm Zeit lassen würden zu Neuorganisatio¬ nen. Er kannte seine Gegner, und man weiß, daß er ohne die treibenden Mächte des Blücher'schen Hauptquartiers vollauf Recht behalten haben würde. War doch jetzt schon durch das Zaudern und Schwanken, zumal der österrei¬ chischen Politik, eine kostbare Zeit verloren gegangen. „Konnte gar," sagt Marmont*), der ganze Winter der Bildung einer Armee gewidmet werden, so würden-wir im Frühjahr, wenigstens an Zahl imposante Kräfte aufge¬ stellt haben." Dennoch war sich grade Marmont klar über die Wahrschein¬ lichkeit einer baldigen und directen Operation auf Paris: als er aber Anfangs November einmal dem Kaiser diesen Gedanken äußerte, rief jener zürnend aus, das sei ein „unsinniges Project." Zu sehr hatte er sich gewöhnt, auf die Langsamkeit und die Fehler seiner Gegner zu rechnen; seit Jahren schon nahm er sie als regelmäßige hochwerthige Factoren in seinen Calcul auf, und grade seit dieser Zeit verrechnete er sich am häufigsten. Er hatte sich auch diesmal verrechnet. Verspätet zwar vom militärischen Standpunkt, aber doch immer noch früh genug, um es in seinen Rüstungen zu stören, brachen die Verbündeten in Frankreich ein. Als die Gefahr näher rückte, ein Winterfeldzug nicht mehr zu bezweifeln war, dachte Napoleon daran, die unmittelbaren Streitkräfte schleunig zu ver¬ mehren. Soult, der die Reste der bisher in Spanien verwendeten ') Nönwirss nu AlarveKal Duo ä<z Rsguse.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/366>, abgerufen am 22.07.2024.