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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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beschimpfte in der Abschiedsaudienz die Mitglieder und beraubte sich im brau¬
senden Zorn selbst des Mittels einen Appell an die Nation, einen Aufruf zu
allgemeiner Volkserhebung zu erlassen. Daß er dies that, darüber scheint er
sich selbst indeß nicht klar gewesen zu sein. Denn die Worte, mit welchen
er die Deputirten entließ, lauteten folgendermaßen: "In drei Monaten haben
wir Frieden, oder ich bin nicht mehr. Wir haben größere Hülfsmittel, als
Sie denken; die Feinde werden schneller verjagt sein, als sie gekommen sind.
Im Elsaß und in der Franche-Comte sind die Leute von besserem Geist be¬
seelt als Sie; sie verlangen Waffen von mir; ich lasse sie ihnen geben; ich
sende ihnen Hauptleute, um sie als Parteigänger anzuführen*). Letzteres ge¬
schah allerdings und zwar wählte der Kaiser, der deutschen Bevölkerung we¬
gen, lauter Elsasser als Officiere und stellte den General Berkheim an ihre
Spitze. Allein allen Anstrengungen dieser Männer gelang es kann, das
Scheinwesen eines Volksaufgebots hervorzurufen. -- Einen Aufruf zur Mas¬
senerhebung in ganz Frankreich erließ der Kaiser nicht. Ob derselbe übrigens
irgend welchen Erfolg gehabt haben würde, steht sehr zu bezweifeln. Wenn
man erwägt, wie heftig die Krankheit der Desertion in allen Theilen der Ar¬
mee herrschte; wenn man bedenkt, daß der Kaiser genöthigt war, wie einst
der Convent, Commissäre mit unbeschränkter Vollmacht, ja mit dem Recht
über Leben und Tod. in die Departements zu senden, um die Verdächtigen
durch Militär-Commissionen unschädlich zu machen, die Aushebung der gefor¬
derten 380,000 Mann zu betreiben und Fluß in das Aufgebot der eodortss
urdainss in den Ostprovinzen zu bringen, und wenn man hört, wie wenig
Erfolg all' diese Maßregeln hatten, so erkennt man, daß in diesem übermü¬
deten Frankreich alle Vorbedingungen zu einer großen Volksbewaffnung
fehlten. Man fühlte keinen Haß gegen die Verbündeten, man fühlte nur
den Druck der eigenen unersättlichen Regierung.

Wenn ein Schiff leck wird, fangen die Ratten an. es zu verlassen. Von
denen, die einst "in seines Glückes Schiff mit ihm gestiegen", hatte Napoleon
im Feldzuge von 1813 schon Bernadotte sich gegenüber gesehn (freilich, wie
ihn Scherr mit treffendem Gleichniß nennt, nur als "Piaffeur"); jetzt sagte
sich auch Murat von ihm los und Neapel trat in die Coalition. Eugen
Beauharnais freilich wies die Anträge des Kaisers Alexander, den gleichen
Schritt zu thun, mit edler Entrüstung zurück; aber er folgte doch auch dem
Befehle Napoleon's nicht, der ihn anwies, nur die Hauptwaffenplätze Ober¬
italiens zu besetzen und zwar mit italienischen Truppen, alle in Italien stehen¬
den französischen Heerkörper aber sofort zu sammeln und nach Frankreich zu
führen. Er blieb und hoffte, daß ihm sein Sitzen zwischen zwei Stühlen



Komad Ott: Geschichte der letzten Kämpfe Napoleons. Leipzig, 1843.

beschimpfte in der Abschiedsaudienz die Mitglieder und beraubte sich im brau¬
senden Zorn selbst des Mittels einen Appell an die Nation, einen Aufruf zu
allgemeiner Volkserhebung zu erlassen. Daß er dies that, darüber scheint er
sich selbst indeß nicht klar gewesen zu sein. Denn die Worte, mit welchen
er die Deputirten entließ, lauteten folgendermaßen: „In drei Monaten haben
wir Frieden, oder ich bin nicht mehr. Wir haben größere Hülfsmittel, als
Sie denken; die Feinde werden schneller verjagt sein, als sie gekommen sind.
Im Elsaß und in der Franche-Comte sind die Leute von besserem Geist be¬
seelt als Sie; sie verlangen Waffen von mir; ich lasse sie ihnen geben; ich
sende ihnen Hauptleute, um sie als Parteigänger anzuführen*). Letzteres ge¬
schah allerdings und zwar wählte der Kaiser, der deutschen Bevölkerung we¬
gen, lauter Elsasser als Officiere und stellte den General Berkheim an ihre
Spitze. Allein allen Anstrengungen dieser Männer gelang es kann, das
Scheinwesen eines Volksaufgebots hervorzurufen. — Einen Aufruf zur Mas¬
senerhebung in ganz Frankreich erließ der Kaiser nicht. Ob derselbe übrigens
irgend welchen Erfolg gehabt haben würde, steht sehr zu bezweifeln. Wenn
man erwägt, wie heftig die Krankheit der Desertion in allen Theilen der Ar¬
mee herrschte; wenn man bedenkt, daß der Kaiser genöthigt war, wie einst
der Convent, Commissäre mit unbeschränkter Vollmacht, ja mit dem Recht
über Leben und Tod. in die Departements zu senden, um die Verdächtigen
durch Militär-Commissionen unschädlich zu machen, die Aushebung der gefor¬
derten 380,000 Mann zu betreiben und Fluß in das Aufgebot der eodortss
urdainss in den Ostprovinzen zu bringen, und wenn man hört, wie wenig
Erfolg all' diese Maßregeln hatten, so erkennt man, daß in diesem übermü¬
deten Frankreich alle Vorbedingungen zu einer großen Volksbewaffnung
fehlten. Man fühlte keinen Haß gegen die Verbündeten, man fühlte nur
den Druck der eigenen unersättlichen Regierung.

Wenn ein Schiff leck wird, fangen die Ratten an. es zu verlassen. Von
denen, die einst „in seines Glückes Schiff mit ihm gestiegen", hatte Napoleon
im Feldzuge von 1813 schon Bernadotte sich gegenüber gesehn (freilich, wie
ihn Scherr mit treffendem Gleichniß nennt, nur als „Piaffeur"); jetzt sagte
sich auch Murat von ihm los und Neapel trat in die Coalition. Eugen
Beauharnais freilich wies die Anträge des Kaisers Alexander, den gleichen
Schritt zu thun, mit edler Entrüstung zurück; aber er folgte doch auch dem
Befehle Napoleon's nicht, der ihn anwies, nur die Hauptwaffenplätze Ober¬
italiens zu besetzen und zwar mit italienischen Truppen, alle in Italien stehen¬
den französischen Heerkörper aber sofort zu sammeln und nach Frankreich zu
führen. Er blieb und hoffte, daß ihm sein Sitzen zwischen zwei Stühlen



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[0365] beschimpfte in der Abschiedsaudienz die Mitglieder und beraubte sich im brau¬ senden Zorn selbst des Mittels einen Appell an die Nation, einen Aufruf zu allgemeiner Volkserhebung zu erlassen. Daß er dies that, darüber scheint er sich selbst indeß nicht klar gewesen zu sein. Denn die Worte, mit welchen er die Deputirten entließ, lauteten folgendermaßen: „In drei Monaten haben wir Frieden, oder ich bin nicht mehr. Wir haben größere Hülfsmittel, als Sie denken; die Feinde werden schneller verjagt sein, als sie gekommen sind. Im Elsaß und in der Franche-Comte sind die Leute von besserem Geist be¬ seelt als Sie; sie verlangen Waffen von mir; ich lasse sie ihnen geben; ich sende ihnen Hauptleute, um sie als Parteigänger anzuführen*). Letzteres ge¬ schah allerdings und zwar wählte der Kaiser, der deutschen Bevölkerung we¬ gen, lauter Elsasser als Officiere und stellte den General Berkheim an ihre Spitze. Allein allen Anstrengungen dieser Männer gelang es kann, das Scheinwesen eines Volksaufgebots hervorzurufen. — Einen Aufruf zur Mas¬ senerhebung in ganz Frankreich erließ der Kaiser nicht. Ob derselbe übrigens irgend welchen Erfolg gehabt haben würde, steht sehr zu bezweifeln. Wenn man erwägt, wie heftig die Krankheit der Desertion in allen Theilen der Ar¬ mee herrschte; wenn man bedenkt, daß der Kaiser genöthigt war, wie einst der Convent, Commissäre mit unbeschränkter Vollmacht, ja mit dem Recht über Leben und Tod. in die Departements zu senden, um die Verdächtigen durch Militär-Commissionen unschädlich zu machen, die Aushebung der gefor¬ derten 380,000 Mann zu betreiben und Fluß in das Aufgebot der eodortss urdainss in den Ostprovinzen zu bringen, und wenn man hört, wie wenig Erfolg all' diese Maßregeln hatten, so erkennt man, daß in diesem übermü¬ deten Frankreich alle Vorbedingungen zu einer großen Volksbewaffnung fehlten. Man fühlte keinen Haß gegen die Verbündeten, man fühlte nur den Druck der eigenen unersättlichen Regierung. Wenn ein Schiff leck wird, fangen die Ratten an. es zu verlassen. Von denen, die einst „in seines Glückes Schiff mit ihm gestiegen", hatte Napoleon im Feldzuge von 1813 schon Bernadotte sich gegenüber gesehn (freilich, wie ihn Scherr mit treffendem Gleichniß nennt, nur als „Piaffeur"); jetzt sagte sich auch Murat von ihm los und Neapel trat in die Coalition. Eugen Beauharnais freilich wies die Anträge des Kaisers Alexander, den gleichen Schritt zu thun, mit edler Entrüstung zurück; aber er folgte doch auch dem Befehle Napoleon's nicht, der ihn anwies, nur die Hauptwaffenplätze Ober¬ italiens zu besetzen und zwar mit italienischen Truppen, alle in Italien stehen¬ den französischen Heerkörper aber sofort zu sammeln und nach Frankreich zu führen. Er blieb und hoffte, daß ihm sein Sitzen zwischen zwei Stühlen Komad Ott: Geschichte der letzten Kämpfe Napoleons. Leipzig, 1843.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/365>, abgerufen am 22.07.2024.