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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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nichts zu sagen, weil die Conseribirten ja in kürzester Frist (in vier Wochen)
doch zum Heer berufen würden. Jeder zehnte Mann solle der Garde zuge¬
wiesen werden. Die Aushebung habe am 8. November zu beginnen.

Unterdeß entleerte der Kriegsminister alle Depots und dirigirte was
menschenmöglich war auf Mainz. Ganze Regimenter befahl er aus entlaufener
und wieder eingefangenen Recruten zusammenzusetzen; denn die Zahl der De¬
serteurs war enorm. In einem einzigen Departement (Gironde) zählte man
damals 13S0 Refractaires und ebensoviel Deserteurs, die man noch nicht
wieder erwischt hatte. Die Maßregel, aus diesen Entlaufenen selbstständige
Truppentheile zu bilden, läßt in einen Abgrund blicken und war übrigens
ganz nutzlos. Halbverhungert aus den Gefängnissen entlassen, in denen sie
zusammengedrängt gesessen hatten, fielen die meisten schon auf dem Marsch
oder langten sterbend bei den Depots an.

Gleichzeitig aber strömten aus dem Innern Deutschlands ungeheure
Schaaren Kranker, Blessirter und Entlaufener zurück. Die Selbstverstüm¬
melungen, zumal an den Fingern, nahmen in bisher unerhörter Weise zu.
Täglich kamen Trupps von 12 bis 16,000 solcher Zurückgehenden durch Erfurt
oder nach Mainz. Um sich unterwegs zu nähren, verkauften sie Alles, was
sie besaßen, sodaß sie nicht selten ohne Hosen, im bloßen Hemde, nach Mainz
gelangten und Kellermann dem Kaiser vorschlug, jeden Verkäufer und jeden
Käufer von Equipirungsgegenständen erschießen zu lassen. -- Diese räuberischen
Marodeurs waren eine furchtbare Landplage. Mit ihnen vermischte sich endlich
noch das Generaldepot der Cavallerie, welches auf Fulda dirigirt und dessen
ungeheuere Colonne in so wüster Verfassung war, daß, während sich am 20.
September die Tete bei Weimar befand, die Queue noch bei Lützen stand.
Diese Colonne gab sich den unerhörtesten Ausschweifungen von Feigheit, Nie¬
derträchtigkeit und grausamer Plünderung hin und vernichtete den Etappen¬
dienst auf der Linie Leipzig-Fulda wie ein Wirbelwind. -- Von den nach
Mainz geströmten, dort eingefangenen und in die Citadelle eingeschlossenen
Deserteurs formirte auf Napoleon's Befehl der Marschall Kellermann mehrere
Bataillone und spricht in einem Bericht an den Kriegsminister staunend aus,
daß es schöne Bataillone, "domines us edoix", seien, freilich aber vom
schlechtesten Geist beseelt. -- Welche Zustände! Die Zeit der Ohnehosen
war zurückgekehrt; nur die Art der Tyrannis war eine andere; an Stelle des
Wohlfahrtsausschusses stand jetzt ein einziger "Schreckensmann" -- Napoleon.

Die französische Armee in Sachsen, auf den engen Raum zwischen Leipzig
und Dresden zusammengedrängt, litt außerordentlich, zumal unter dem Man¬
gel an Lebensmitteln. Die Brotration war auf ein Drittel der normalen
(auf 8 Unzen) herabgesetzt, und alle Befehle des Kaisers, sie wieder auf die


nichts zu sagen, weil die Conseribirten ja in kürzester Frist (in vier Wochen)
doch zum Heer berufen würden. Jeder zehnte Mann solle der Garde zuge¬
wiesen werden. Die Aushebung habe am 8. November zu beginnen.

Unterdeß entleerte der Kriegsminister alle Depots und dirigirte was
menschenmöglich war auf Mainz. Ganze Regimenter befahl er aus entlaufener
und wieder eingefangenen Recruten zusammenzusetzen; denn die Zahl der De¬
serteurs war enorm. In einem einzigen Departement (Gironde) zählte man
damals 13S0 Refractaires und ebensoviel Deserteurs, die man noch nicht
wieder erwischt hatte. Die Maßregel, aus diesen Entlaufenen selbstständige
Truppentheile zu bilden, läßt in einen Abgrund blicken und war übrigens
ganz nutzlos. Halbverhungert aus den Gefängnissen entlassen, in denen sie
zusammengedrängt gesessen hatten, fielen die meisten schon auf dem Marsch
oder langten sterbend bei den Depots an.

Gleichzeitig aber strömten aus dem Innern Deutschlands ungeheure
Schaaren Kranker, Blessirter und Entlaufener zurück. Die Selbstverstüm¬
melungen, zumal an den Fingern, nahmen in bisher unerhörter Weise zu.
Täglich kamen Trupps von 12 bis 16,000 solcher Zurückgehenden durch Erfurt
oder nach Mainz. Um sich unterwegs zu nähren, verkauften sie Alles, was
sie besaßen, sodaß sie nicht selten ohne Hosen, im bloßen Hemde, nach Mainz
gelangten und Kellermann dem Kaiser vorschlug, jeden Verkäufer und jeden
Käufer von Equipirungsgegenständen erschießen zu lassen. — Diese räuberischen
Marodeurs waren eine furchtbare Landplage. Mit ihnen vermischte sich endlich
noch das Generaldepot der Cavallerie, welches auf Fulda dirigirt und dessen
ungeheuere Colonne in so wüster Verfassung war, daß, während sich am 20.
September die Tete bei Weimar befand, die Queue noch bei Lützen stand.
Diese Colonne gab sich den unerhörtesten Ausschweifungen von Feigheit, Nie¬
derträchtigkeit und grausamer Plünderung hin und vernichtete den Etappen¬
dienst auf der Linie Leipzig-Fulda wie ein Wirbelwind. — Von den nach
Mainz geströmten, dort eingefangenen und in die Citadelle eingeschlossenen
Deserteurs formirte auf Napoleon's Befehl der Marschall Kellermann mehrere
Bataillone und spricht in einem Bericht an den Kriegsminister staunend aus,
daß es schöne Bataillone, „domines us edoix", seien, freilich aber vom
schlechtesten Geist beseelt. — Welche Zustände! Die Zeit der Ohnehosen
war zurückgekehrt; nur die Art der Tyrannis war eine andere; an Stelle des
Wohlfahrtsausschusses stand jetzt ein einziger „Schreckensmann" — Napoleon.

Die französische Armee in Sachsen, auf den engen Raum zwischen Leipzig
und Dresden zusammengedrängt, litt außerordentlich, zumal unter dem Man¬
gel an Lebensmitteln. Die Brotration war auf ein Drittel der normalen
(auf 8 Unzen) herabgesetzt, und alle Befehle des Kaisers, sie wieder auf die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/340>, abgerufen am 22.12.2024.