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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Eine Maßregel von solcher Kleinlichkeit wie jene zum Theil sogar mi߬
lingende Sendung der Schiffsgarnisonen an den Prinzen Eugen un¬
mittelbar nach der Verfügung über die größte Armee der Welt -- das ist
ein Gegensatz, wie ihn wol wenige Menschen zu ertragen vermögen. Napoleon
überwand ihn. Niemals hat er sich als Organisator energischer, einsichtiger,
schöpferischer gezeigt, als in diesem verhängnißvollen Augenblick. Seinem
mächtigen Genius kamen die günstigsten Verhältnisse zu Hilfe: eine scharf
centralisirte, routinirte Verwaltung, die Gewohnheit solcher Organisationen,
eine dichte Bevölkerung auf nicht zu großem Raum, trefflich ausgestattete Arsenale
und eine intelligente Bevölkerung, die, sie mochte geleistet haben, was sie wollte,
doch schon durch zwanzigjährigen Raub in allen Ländern, die reichste von
Europa war. -- Dort die Nothwendigkeit, hier die Hilfsmittel. Napoleon
zauderte nicht, sie zu gebrauchen. Er sah es ein: reorganisiren genügte
nicht mehr. Es galt, eine ganz neue Armee zu schaffen. Doch auch diese sollte
wieder eine vranäs al-mes werden, "Ist der Leib in Staub zerfallen, lebt
der große Name doch!"

Fassen wir ins Auge, was der Kaiser von Streitkräften vorfand, als
er nach Frankreich zurückkehrte.

Es waren da zunächst 120,000 Conseribirte des Contingents von
1813, welche bereits im October 1812 eingestellt worden waren. Ihre Aus¬
bildung hatte, weil die verfrühte Rekrutirung nur überaus langsam und
widerwillig von Statten gegangen war, im December noch nicht einmal be¬
gonnen. Sie waren also militärisch noch in keiner Weise brauchbar.

Man hätte ferner in Frankreich vorzufinden erwarten sollen die 120,000
Conseribirten des Contingents von 1812. Aber von ihnen befand sich fast
keine Spur mehr in den Depots. War doch aus diesen Depots seit acht
Monaten eine endlose Kolonne entsandt worden, welche unaufhörlich vom
Rhein an die Weichsel in Marsch war, um die große Armee mit Menschen
zu nähren. Waren doch aus diesen Conseribirten von 1812 jene Divisionen
des X. und XI. Corps gebildet gewesen, die man der retirirenden Armee
entgegengesandt und die von ihr mitgerissen wurden ins Verderben; bestand
doch aus eben jenen Conseribirten die Division Durutte, welche bei Kalisch
focht und vorging. War das Kontingent von 1812 doch so völlig verbraucht,
daß ein Decret vom September 1812 zur Auffrischung desselben auf die
Conscription von 1813 vorausgriff und 17,000 Mann vorwegnahm,
welche übrigens bei der einen Monat später erfolgenden Rekrutirung Nichten
Anrechnung kamen. -- Trotz dieser Hilfe aber fanden sich, als im October
auf Befehl aus Moskau eine scharfe Musterung der Depots vorgenommen
wurde, doch nicht mehr als 1822 marschfähige Leute in denselben vor. Die


Eine Maßregel von solcher Kleinlichkeit wie jene zum Theil sogar mi߬
lingende Sendung der Schiffsgarnisonen an den Prinzen Eugen un¬
mittelbar nach der Verfügung über die größte Armee der Welt — das ist
ein Gegensatz, wie ihn wol wenige Menschen zu ertragen vermögen. Napoleon
überwand ihn. Niemals hat er sich als Organisator energischer, einsichtiger,
schöpferischer gezeigt, als in diesem verhängnißvollen Augenblick. Seinem
mächtigen Genius kamen die günstigsten Verhältnisse zu Hilfe: eine scharf
centralisirte, routinirte Verwaltung, die Gewohnheit solcher Organisationen,
eine dichte Bevölkerung auf nicht zu großem Raum, trefflich ausgestattete Arsenale
und eine intelligente Bevölkerung, die, sie mochte geleistet haben, was sie wollte,
doch schon durch zwanzigjährigen Raub in allen Ländern, die reichste von
Europa war. — Dort die Nothwendigkeit, hier die Hilfsmittel. Napoleon
zauderte nicht, sie zu gebrauchen. Er sah es ein: reorganisiren genügte
nicht mehr. Es galt, eine ganz neue Armee zu schaffen. Doch auch diese sollte
wieder eine vranäs al-mes werden, „Ist der Leib in Staub zerfallen, lebt
der große Name doch!"

Fassen wir ins Auge, was der Kaiser von Streitkräften vorfand, als
er nach Frankreich zurückkehrte.

Es waren da zunächst 120,000 Conseribirte des Contingents von
1813, welche bereits im October 1812 eingestellt worden waren. Ihre Aus¬
bildung hatte, weil die verfrühte Rekrutirung nur überaus langsam und
widerwillig von Statten gegangen war, im December noch nicht einmal be¬
gonnen. Sie waren also militärisch noch in keiner Weise brauchbar.

Man hätte ferner in Frankreich vorzufinden erwarten sollen die 120,000
Conseribirten des Contingents von 1812. Aber von ihnen befand sich fast
keine Spur mehr in den Depots. War doch aus diesen Depots seit acht
Monaten eine endlose Kolonne entsandt worden, welche unaufhörlich vom
Rhein an die Weichsel in Marsch war, um die große Armee mit Menschen
zu nähren. Waren doch aus diesen Conseribirten von 1812 jene Divisionen
des X. und XI. Corps gebildet gewesen, die man der retirirenden Armee
entgegengesandt und die von ihr mitgerissen wurden ins Verderben; bestand
doch aus eben jenen Conseribirten die Division Durutte, welche bei Kalisch
focht und vorging. War das Kontingent von 1812 doch so völlig verbraucht,
daß ein Decret vom September 1812 zur Auffrischung desselben auf die
Conscription von 1813 vorausgriff und 17,000 Mann vorwegnahm,
welche übrigens bei der einen Monat später erfolgenden Rekrutirung Nichten
Anrechnung kamen. — Trotz dieser Hilfe aber fanden sich, als im October
auf Befehl aus Moskau eine scharfe Musterung der Depots vorgenommen
wurde, doch nicht mehr als 1822 marschfähige Leute in denselben vor. Die


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[0326] Eine Maßregel von solcher Kleinlichkeit wie jene zum Theil sogar mi߬ lingende Sendung der Schiffsgarnisonen an den Prinzen Eugen un¬ mittelbar nach der Verfügung über die größte Armee der Welt — das ist ein Gegensatz, wie ihn wol wenige Menschen zu ertragen vermögen. Napoleon überwand ihn. Niemals hat er sich als Organisator energischer, einsichtiger, schöpferischer gezeigt, als in diesem verhängnißvollen Augenblick. Seinem mächtigen Genius kamen die günstigsten Verhältnisse zu Hilfe: eine scharf centralisirte, routinirte Verwaltung, die Gewohnheit solcher Organisationen, eine dichte Bevölkerung auf nicht zu großem Raum, trefflich ausgestattete Arsenale und eine intelligente Bevölkerung, die, sie mochte geleistet haben, was sie wollte, doch schon durch zwanzigjährigen Raub in allen Ländern, die reichste von Europa war. — Dort die Nothwendigkeit, hier die Hilfsmittel. Napoleon zauderte nicht, sie zu gebrauchen. Er sah es ein: reorganisiren genügte nicht mehr. Es galt, eine ganz neue Armee zu schaffen. Doch auch diese sollte wieder eine vranäs al-mes werden, „Ist der Leib in Staub zerfallen, lebt der große Name doch!" Fassen wir ins Auge, was der Kaiser von Streitkräften vorfand, als er nach Frankreich zurückkehrte. Es waren da zunächst 120,000 Conseribirte des Contingents von 1813, welche bereits im October 1812 eingestellt worden waren. Ihre Aus¬ bildung hatte, weil die verfrühte Rekrutirung nur überaus langsam und widerwillig von Statten gegangen war, im December noch nicht einmal be¬ gonnen. Sie waren also militärisch noch in keiner Weise brauchbar. Man hätte ferner in Frankreich vorzufinden erwarten sollen die 120,000 Conseribirten des Contingents von 1812. Aber von ihnen befand sich fast keine Spur mehr in den Depots. War doch aus diesen Depots seit acht Monaten eine endlose Kolonne entsandt worden, welche unaufhörlich vom Rhein an die Weichsel in Marsch war, um die große Armee mit Menschen zu nähren. Waren doch aus diesen Conseribirten von 1812 jene Divisionen des X. und XI. Corps gebildet gewesen, die man der retirirenden Armee entgegengesandt und die von ihr mitgerissen wurden ins Verderben; bestand doch aus eben jenen Conseribirten die Division Durutte, welche bei Kalisch focht und vorging. War das Kontingent von 1812 doch so völlig verbraucht, daß ein Decret vom September 1812 zur Auffrischung desselben auf die Conscription von 1813 vorausgriff und 17,000 Mann vorwegnahm, welche übrigens bei der einen Monat später erfolgenden Rekrutirung Nichten Anrechnung kamen. — Trotz dieser Hilfe aber fanden sich, als im October auf Befehl aus Moskau eine scharfe Musterung der Depots vorgenommen wurde, doch nicht mehr als 1822 marschfähige Leute in denselben vor. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/326>, abgerufen am 22.12.2024.