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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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1871 vor der Nationalversammlung: "Man sagte: es ist unmöglich, daß sich
Paris länger als 14 Tage hält; die Kühnsten gingen bis auf 30 Tage und
ich muß gestehen, daß meine weitgehendsten Hoffnungen 60 Tage nicht über¬
stiegen." In seiner Proklamation an die "Bürger der Departements" bei
Uebernahme der Dictatur am 10. October 1870, erklärt freilich Gambetta:
"Da die Stadt mit dem Nöthigsten versehen ist, so ist sie im Stande dem
Feinde lange Monate hindurch Trotz zu bieten." Aber in Wirklichkeit glaubte
die Delegation in Tours den Zeitpunkt der Erschöpfung aller Lebensmittel
in Paris schon für Mitte December berechnen zu müssen, und danach traf
sie ihre Maßregeln, danach wurde die Ausbildung und Ausrüstung der Sol¬
daten, die Feldzugspläne, Politik, Inneres, Finanzen, Alles berechnet. Von
diesem Standpunkte aus darf man auch allein die Handlungsweise des
französischen Kriegsministeriums unter Gambetta beurtheilen, wenn man ge¬
recht sein will. Und sehr richtig bemerkt Freycinet, daß der Zeitpunkt der
Aushungerung von Paris, anstatt immer sicherer zu werden, vielmehr immer
mehr "unbekannte Größe" wurde, mit der zunehmenden Unzuverlässigkeit der
Ballon- und Brieftaubencorrespondenz.

Ueber die Leistungen des Kriegsministeriums zu Tours und Bor¬
deaux in dieser Zeit, die sich thatsächlich vom 10. October 1870 bis 9. Februar
1871 erstreckte, berichtet Freycinet im wesentlichen das Folgende:

Am 10. October war die militärische Lage Frankreichs dahin zusammen¬
zufassen: Paris eingeschlossen; Metz im Begriff zu capituliren; 20--25,000
Mann, geschlagen, von der Loire bis in die Sologne zurückgewichen; 24,000
Mann, demoralistrt, unter General Cambriels in Besancon; von Chartres
bis Evreux 30,000 Mobilgarden, nicht wiederstandsfähig; im Norden nur
Besatzungen. Alles in Allem: nicht ganz 40,000 Mann regulärer Truppen,
ebensoviel Mohne, 6--6000 Mann Cavallerie, etwa 100 Geschütze. Den
Feind dagegen berechnet Freycinet auf 7--800,000 Mann, mit 2000 Ge¬
schützen, ungerechnet die Belagerungsbatterien und Reserven. Ebenso ungünstig
stand es in administrativer Hinsicht. Der größte Theil des Beamtenpersonals
war in Paris zurückgeblieben, weil man dort der Bewegung in den Provinzen
nur ganz untergeordnete Bedeutung beimaß. Bei einer vier bis fünffach ge¬
steigerten Arbeitslast mußte man sich in Tours mit einem Fünftel der Ar¬
beitskräfte des Friedensetats behelfen. Die Archive, Armeeaeten, und vor
Allem die Karten waren in Paris geblieben. Das Kriegsministerium in Tours
hatte nicht einmal eine Karte von ganz Frankreich zu seiner Verfügung! So
mußte man Officieren Kommandos anvertrauen, deren Antecedentien man
nicht kannte, und Krieg führen ohne Karten! Und das in einem Lande, wo
man ohne die Inspirationen der Hauptstadt bisher keinen Schritt zu thun


1871 vor der Nationalversammlung: „Man sagte: es ist unmöglich, daß sich
Paris länger als 14 Tage hält; die Kühnsten gingen bis auf 30 Tage und
ich muß gestehen, daß meine weitgehendsten Hoffnungen 60 Tage nicht über¬
stiegen." In seiner Proklamation an die „Bürger der Departements" bei
Uebernahme der Dictatur am 10. October 1870, erklärt freilich Gambetta:
„Da die Stadt mit dem Nöthigsten versehen ist, so ist sie im Stande dem
Feinde lange Monate hindurch Trotz zu bieten." Aber in Wirklichkeit glaubte
die Delegation in Tours den Zeitpunkt der Erschöpfung aller Lebensmittel
in Paris schon für Mitte December berechnen zu müssen, und danach traf
sie ihre Maßregeln, danach wurde die Ausbildung und Ausrüstung der Sol¬
daten, die Feldzugspläne, Politik, Inneres, Finanzen, Alles berechnet. Von
diesem Standpunkte aus darf man auch allein die Handlungsweise des
französischen Kriegsministeriums unter Gambetta beurtheilen, wenn man ge¬
recht sein will. Und sehr richtig bemerkt Freycinet, daß der Zeitpunkt der
Aushungerung von Paris, anstatt immer sicherer zu werden, vielmehr immer
mehr „unbekannte Größe" wurde, mit der zunehmenden Unzuverlässigkeit der
Ballon- und Brieftaubencorrespondenz.

Ueber die Leistungen des Kriegsministeriums zu Tours und Bor¬
deaux in dieser Zeit, die sich thatsächlich vom 10. October 1870 bis 9. Februar
1871 erstreckte, berichtet Freycinet im wesentlichen das Folgende:

Am 10. October war die militärische Lage Frankreichs dahin zusammen¬
zufassen: Paris eingeschlossen; Metz im Begriff zu capituliren; 20—25,000
Mann, geschlagen, von der Loire bis in die Sologne zurückgewichen; 24,000
Mann, demoralistrt, unter General Cambriels in Besancon; von Chartres
bis Evreux 30,000 Mobilgarden, nicht wiederstandsfähig; im Norden nur
Besatzungen. Alles in Allem: nicht ganz 40,000 Mann regulärer Truppen,
ebensoviel Mohne, 6—6000 Mann Cavallerie, etwa 100 Geschütze. Den
Feind dagegen berechnet Freycinet auf 7—800,000 Mann, mit 2000 Ge¬
schützen, ungerechnet die Belagerungsbatterien und Reserven. Ebenso ungünstig
stand es in administrativer Hinsicht. Der größte Theil des Beamtenpersonals
war in Paris zurückgeblieben, weil man dort der Bewegung in den Provinzen
nur ganz untergeordnete Bedeutung beimaß. Bei einer vier bis fünffach ge¬
steigerten Arbeitslast mußte man sich in Tours mit einem Fünftel der Ar¬
beitskräfte des Friedensetats behelfen. Die Archive, Armeeaeten, und vor
Allem die Karten waren in Paris geblieben. Das Kriegsministerium in Tours
hatte nicht einmal eine Karte von ganz Frankreich zu seiner Verfügung! So
mußte man Officieren Kommandos anvertrauen, deren Antecedentien man
nicht kannte, und Krieg führen ohne Karten! Und das in einem Lande, wo
man ohne die Inspirationen der Hauptstadt bisher keinen Schritt zu thun


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/293>, abgerufen am 22.12.2024.