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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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weigert, so schnell wie das in Tours gewünscht wird, auf Orleans los zu
gehen, wenn er dann nach der Einnahme von Orleans, nach der Schlacht bei
Coulmiers vierzehntägige Rast seiner erschöpften Truppen, und die Befestigung
seiner Stellung durchsetzt gegen den Befehl Gambettas sofort auf Paris zu
marschiren, wenn er endlich, nachdem er auf das uncchlässige Drängen von
Tours den abenteuerlichen Marsch auf Fontaineblau angetreten, um Ducrots
Ausfall aus Paris vom 30. November die Hand zu reichen, nach feinen harten
Niederlagen bei Artenay und Lourh, zur Verzweiflung Gambettas die
Räumung von Orleans für die einzige Rettung seiner Armee hält: so wird
ihm vom Standpunkte eines regelrechten Strategen wenig vorzuwerfen sein.
Er würde, wenn er länger im Oberbefehl geblieben wäre, vermuthlich auch
die schreckliche Niederlage bei Le Mans vermieden haben, die General Chanzy
herbeiführte -- weil d'Aurelles sich vermuthlich auch bei Le Mans nicht ge¬
schlagen hätte.

Aber diese unter gewöhnlichen Verhältnissen sehr werthvollen Eigenschaften
des Generals d'Aurelles paßten am wenigsten in die Verhältnisse, in die er
gestellt war. Auch war es vielleicht wenn kein strategischer doch ein politischer
Fehler, wie Freycinet nachdrücklich hervorhebt, daß die Regierung in Tours,
gegen ihren Willen, nach dem Sieg bei Coulmiers dem General d'Aurelles
den langen Aufenthalt in Orleans gestattete. Vielleicht hätte er damals, vor
Mitte November, als das Heer des Prinzen Friedrich Carl erst im Anmarsch
von Metz her begriffen war, durch einen hastigen Vorstoß auf Versailles wirk¬
lich der Pariser Belagerungsarmee vorübergehend unbequem werden können.
Aber was den General Palladines auf die Dauer als Oberbefehlshaber unter
dieser Dictatur unmöglich machte, war die den Gedanken Gambettas diame¬
tral entgegengesetzte Auffassung seiner Aufgabe. Sehr schlagend und richtig
faßt Freycinet die Aufgabe der Dictatur Gambettas dahin zusammen, daß
die für die ganze Kriegführung, d. h. sowohl für die Schaffung und Organi¬
sation neuer Heere, als für die militärischen Operationen ihnen zugemessene
Zeit ganz genau zusammenfiel mit dem Zeitraum, auf welchen der Lebens¬
mittel-Vorrath der belagerten Hauptstadt zureichte. Erklärte man einmal
überhaupt nach Sedan die Fortsetzung des Krieges, insbesondere in den
Provinzen, für angemessen und vernünftig, so mußte sich in der That das
Tempo aller Leistungen und Anstrengungen der Provinz einzig und allein
danach richten, wie lange Paris dem Hungertod werde widerstehen können.
Und dieser Zeitpunkt ist sowohl von Jules Favre als von Trochu für
viel näher bevorstehend erachtet worden, als sich nachher herausstellte. Favre
bezeichnete in einer Depesche vom 26. November an die Delegation in Tours
den 15. December als äußersten Termin. "Wir werden ihn nicht überschreiten,
wenn wir ihn erreichen können." Und General Trochu erklärte am 13. Juni


weigert, so schnell wie das in Tours gewünscht wird, auf Orleans los zu
gehen, wenn er dann nach der Einnahme von Orleans, nach der Schlacht bei
Coulmiers vierzehntägige Rast seiner erschöpften Truppen, und die Befestigung
seiner Stellung durchsetzt gegen den Befehl Gambettas sofort auf Paris zu
marschiren, wenn er endlich, nachdem er auf das uncchlässige Drängen von
Tours den abenteuerlichen Marsch auf Fontaineblau angetreten, um Ducrots
Ausfall aus Paris vom 30. November die Hand zu reichen, nach feinen harten
Niederlagen bei Artenay und Lourh, zur Verzweiflung Gambettas die
Räumung von Orleans für die einzige Rettung seiner Armee hält: so wird
ihm vom Standpunkte eines regelrechten Strategen wenig vorzuwerfen sein.
Er würde, wenn er länger im Oberbefehl geblieben wäre, vermuthlich auch
die schreckliche Niederlage bei Le Mans vermieden haben, die General Chanzy
herbeiführte — weil d'Aurelles sich vermuthlich auch bei Le Mans nicht ge¬
schlagen hätte.

Aber diese unter gewöhnlichen Verhältnissen sehr werthvollen Eigenschaften
des Generals d'Aurelles paßten am wenigsten in die Verhältnisse, in die er
gestellt war. Auch war es vielleicht wenn kein strategischer doch ein politischer
Fehler, wie Freycinet nachdrücklich hervorhebt, daß die Regierung in Tours,
gegen ihren Willen, nach dem Sieg bei Coulmiers dem General d'Aurelles
den langen Aufenthalt in Orleans gestattete. Vielleicht hätte er damals, vor
Mitte November, als das Heer des Prinzen Friedrich Carl erst im Anmarsch
von Metz her begriffen war, durch einen hastigen Vorstoß auf Versailles wirk¬
lich der Pariser Belagerungsarmee vorübergehend unbequem werden können.
Aber was den General Palladines auf die Dauer als Oberbefehlshaber unter
dieser Dictatur unmöglich machte, war die den Gedanken Gambettas diame¬
tral entgegengesetzte Auffassung seiner Aufgabe. Sehr schlagend und richtig
faßt Freycinet die Aufgabe der Dictatur Gambettas dahin zusammen, daß
die für die ganze Kriegführung, d. h. sowohl für die Schaffung und Organi¬
sation neuer Heere, als für die militärischen Operationen ihnen zugemessene
Zeit ganz genau zusammenfiel mit dem Zeitraum, auf welchen der Lebens¬
mittel-Vorrath der belagerten Hauptstadt zureichte. Erklärte man einmal
überhaupt nach Sedan die Fortsetzung des Krieges, insbesondere in den
Provinzen, für angemessen und vernünftig, so mußte sich in der That das
Tempo aller Leistungen und Anstrengungen der Provinz einzig und allein
danach richten, wie lange Paris dem Hungertod werde widerstehen können.
Und dieser Zeitpunkt ist sowohl von Jules Favre als von Trochu für
viel näher bevorstehend erachtet worden, als sich nachher herausstellte. Favre
bezeichnete in einer Depesche vom 26. November an die Delegation in Tours
den 15. December als äußersten Termin. „Wir werden ihn nicht überschreiten,
wenn wir ihn erreichen können." Und General Trochu erklärte am 13. Juni


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/292>, abgerufen am 22.07.2024.