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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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^ "In jenen Tagen -- ich spreche von der Zeit vor zwanzig Jahren --
war unser herrliches Land noch nicht auf den heutigen Standpunkt reducirt.
Ich fürchtete immer, daß Gott es so schön gemacht hat, um es dadurch ge¬
wissermaßen für seine Mißgeschicke zu trösten. Nach langer, schwerer Arbeit
war endlich die nationale Einheit erreicht worden; die Kriege von 18S9 und
1866 hatten uns fast ganz befreit; der von 1866 hatte uns Venetien ver¬
schafft. Die mehr oder weniger offenen Kämpfe gegen die weltliche Herrschaft
des Papstes wurden materiell durch die Besitzergreifung Roms beendigt und
die Hauptstadt des einigen Italiens wurde nach der alten Stadt der Cäsaren
und Päpste verlegt. Damals schien alles uns zu lächeln. Andere Nationen
beneideten uns wegen unserer glücklichen Weltlage, die uns gestattete im vollen
Maße Vortheile aus dem neuen mit dem Osten eröffneten Handel zu ziehen
und jeder Tag sah unsere blühenden Küsten und schönen Inseln umwogt von
einer sich mehrenden Bevölkerung unternehmender Kaufleute und kühner, tüch¬
tiger Seeleute. Fast unsere ganze männliche Jugend hatte sich an den heiligen
Kriegen für des Vaterlandes Unabhängigkeit betheiligt; auch ich nahm Theil
daran, und zwar als Seemann, da mein Vater, ein alter Capitän, mich auch
für die Marine bestimmt hatte. So kam ich 1866 zur königlichen Flotte und
war Theilnehmer an der Schlacht bei Lissa, von der Ihr wohl habt erzählen
hören; dort feuerte ich meine erste Kanone ab und war Zeuge, wie eine Kugel
in die Schiffsbatterie eindrang, in welcher ich diente. Es war eine Niederlag"
und doch konnte ich es kaum glauben.

"Unterdessen, nachdem wir einmal in Rom festsaßen, ging alles mit
schwellenden Segeln vorwärts. Es wurden ungeheure Summen verdient, der
Handel blühte gewaltig, in den Häfen wurden Schiffe auf Schiffe gebaut und
in den Städten erhob sich ein neues Haus neben dem andern; die Fabriken
konnten nicht alle Bestellungen ausführen, die ihnen wurden und sandten
ihre Waaren weithin. Bei alledem zeigte sich aber stets ein starkes Aufbrausen
der Parteien, denn Ihr müßt wissen, daß damals, wie heute noch, unser ita¬
lienischer Charakter mit etwas Leichtsinn verquickt war. Oft wurde eine Sache
mit großem Enthusiasmus in Angriff genommen, dann eben so schnell bei
Seite geschoben oder im besten Falle nur langsam gefördert. Wir litten an
einer fabelhaften Menge von Gesetzen, an einem Tage wurden oft zwei oder
drei neue gemacht und das Parlament kümmerte sich nicht im geringsten
darum dieser Sündfluth zu steuern. Die öffentlichen Geschäfte und die Ver¬
waltung waren sehr in Unordnung -- man sagte mir wenigstens so, aber
ich weiß wenig Genaues darüber, da ich fast stets auf der, See war und nur
selten meinen Fuß nach Rom setzte. Und selbst wenn ich dort öfter hinge¬
gangen wäre, ich würde doch in diesem ungeheuren Pfaffen- und Beamten¬
neste kaum erfahren haben, was vorging.


^ „In jenen Tagen — ich spreche von der Zeit vor zwanzig Jahren —
war unser herrliches Land noch nicht auf den heutigen Standpunkt reducirt.
Ich fürchtete immer, daß Gott es so schön gemacht hat, um es dadurch ge¬
wissermaßen für seine Mißgeschicke zu trösten. Nach langer, schwerer Arbeit
war endlich die nationale Einheit erreicht worden; die Kriege von 18S9 und
1866 hatten uns fast ganz befreit; der von 1866 hatte uns Venetien ver¬
schafft. Die mehr oder weniger offenen Kämpfe gegen die weltliche Herrschaft
des Papstes wurden materiell durch die Besitzergreifung Roms beendigt und
die Hauptstadt des einigen Italiens wurde nach der alten Stadt der Cäsaren
und Päpste verlegt. Damals schien alles uns zu lächeln. Andere Nationen
beneideten uns wegen unserer glücklichen Weltlage, die uns gestattete im vollen
Maße Vortheile aus dem neuen mit dem Osten eröffneten Handel zu ziehen
und jeder Tag sah unsere blühenden Küsten und schönen Inseln umwogt von
einer sich mehrenden Bevölkerung unternehmender Kaufleute und kühner, tüch¬
tiger Seeleute. Fast unsere ganze männliche Jugend hatte sich an den heiligen
Kriegen für des Vaterlandes Unabhängigkeit betheiligt; auch ich nahm Theil
daran, und zwar als Seemann, da mein Vater, ein alter Capitän, mich auch
für die Marine bestimmt hatte. So kam ich 1866 zur königlichen Flotte und
war Theilnehmer an der Schlacht bei Lissa, von der Ihr wohl habt erzählen
hören; dort feuerte ich meine erste Kanone ab und war Zeuge, wie eine Kugel
in die Schiffsbatterie eindrang, in welcher ich diente. Es war eine Niederlag»
und doch konnte ich es kaum glauben.

„Unterdessen, nachdem wir einmal in Rom festsaßen, ging alles mit
schwellenden Segeln vorwärts. Es wurden ungeheure Summen verdient, der
Handel blühte gewaltig, in den Häfen wurden Schiffe auf Schiffe gebaut und
in den Städten erhob sich ein neues Haus neben dem andern; die Fabriken
konnten nicht alle Bestellungen ausführen, die ihnen wurden und sandten
ihre Waaren weithin. Bei alledem zeigte sich aber stets ein starkes Aufbrausen
der Parteien, denn Ihr müßt wissen, daß damals, wie heute noch, unser ita¬
lienischer Charakter mit etwas Leichtsinn verquickt war. Oft wurde eine Sache
mit großem Enthusiasmus in Angriff genommen, dann eben so schnell bei
Seite geschoben oder im besten Falle nur langsam gefördert. Wir litten an
einer fabelhaften Menge von Gesetzen, an einem Tage wurden oft zwei oder
drei neue gemacht und das Parlament kümmerte sich nicht im geringsten
darum dieser Sündfluth zu steuern. Die öffentlichen Geschäfte und die Ver¬
waltung waren sehr in Unordnung — man sagte mir wenigstens so, aber
ich weiß wenig Genaues darüber, da ich fast stets auf der, See war und nur
selten meinen Fuß nach Rom setzte. Und selbst wenn ich dort öfter hinge¬
gangen wäre, ich würde doch in diesem ungeheuren Pfaffen- und Beamten¬
neste kaum erfahren haben, was vorging.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/29>, abgerufen am 22.12.2024.