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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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zeugung zu geben, daß sie innerhalb ihrer Sphäre keine Gefahr von einander
zu besorgen hätten.

Allmählich vollzog sich aber auch noch eine innere Annäherung der Ge¬
müther und zwar von zwei ganz verschiedenen Seiten her. Das was man
im Beginne des 18. Jahrhunderts Jndifferentismus und Naturalismus nannte,
was dann später auf die wissenschaftliche Theologie der protestantischen Kirche
übertragen, Rationalismus hieß, verbreitete sich ebenso unter den Laien, wie
unter der Priesterherrschaft, und wenn auch die zähere Organisation und Dis¬
ciplin des katholischen Clerus, zum Theil auch sein relativ niedrigerer Bildungs¬
stand ihn nur langsamer diesen Einflüssen zugänglich machte, so erfaßten sie
ihn doch nach und nach und zwar deutlich wahrnehmbar so, daß zuerst die
Spitzen davon berührt wurden und daß sich von da aus die neue Denkungs-
art in immer tiefere Schichten verbreitete.

Dem gegenüber steht eine ebenso starke religiöse Erhebung und Vertiefung,
die man auf protestantischer Seite unter die Bezeichnung Pietismus zusammen
zu fassen pflegt. Auch sie transpirirte sehr bald und sehr rasch in die ältere
Kirche >und brachte auch hier wahrhaft bedeutende, wenn auch äußerlich weniger
fühlbare Wirkungen hervor.

In dem einen Punkte liefen die Wirkungen beider Richtungen zusammen:
der Friede zwischen den Confessionen erschien nun nicht mehr als ein bloßes
Gebot der Weltklugheit oder der Politik, sondern als eine Forderung der Ver¬
nunft oder des religiösen Gewissens. Man wollte die Andersgläubigen nicht
bloß dulden, weil ihre Existenz sich nicht mehr rückgängig machen ließ, sondern
man suchte in ihrer Lehre und ihrem kirchlichen Leben dasjenige herauszufinden
und als allgemein christlich anzuerkennen, was beiden Theilen mehr und mehr
als die eigentlich fundamentalen Momente der Lehre und des Lebens im christ¬
lichen Geiste galt. So vollzog sich eine Versöhnung der Gemüther, die für
die deutsche Zukunft die erfreulichsten Aussichten gab. Gelang es dazu noch,
worauf z. B. die bekannte Emser Punctation unmittelbar vor der französischen
Revolution zielte, eine von dem römischen Einfluß möglichst unabhängige
Form der katholischen Kirchenverfassung im deutschen Reiche zu finden, so war
die Idee einer deutschen Nationalkirche, wie sie im Beginne der Reformation
das eigentliche Ziel der Führer gewesen, in erreichbare Nähe gerückt und damit
denn auch die Ausgleichung des tiefen Risses, den die Reformation oder viel¬
mehr die von den Jesuiten in Scene gesetzte Gegenreformation in unsere
Nation gebracht hatte. Der entschiedenst gläubige Katholik konnte sich mit
der vollsten Gewissensüberzeugung dieser Stimmung und Richtung des Zeit¬
geistes hingeben, ohne nur ein Jota von den Dogmen und der Disciplin seiner
Kirche fahren zu lassen, wie auf der andern Seite auch die gläubigsten Pro¬
testanten und vorzugsweise diese, entschlossen waren einem solchen Versöhnungs-


zeugung zu geben, daß sie innerhalb ihrer Sphäre keine Gefahr von einander
zu besorgen hätten.

Allmählich vollzog sich aber auch noch eine innere Annäherung der Ge¬
müther und zwar von zwei ganz verschiedenen Seiten her. Das was man
im Beginne des 18. Jahrhunderts Jndifferentismus und Naturalismus nannte,
was dann später auf die wissenschaftliche Theologie der protestantischen Kirche
übertragen, Rationalismus hieß, verbreitete sich ebenso unter den Laien, wie
unter der Priesterherrschaft, und wenn auch die zähere Organisation und Dis¬
ciplin des katholischen Clerus, zum Theil auch sein relativ niedrigerer Bildungs¬
stand ihn nur langsamer diesen Einflüssen zugänglich machte, so erfaßten sie
ihn doch nach und nach und zwar deutlich wahrnehmbar so, daß zuerst die
Spitzen davon berührt wurden und daß sich von da aus die neue Denkungs-
art in immer tiefere Schichten verbreitete.

Dem gegenüber steht eine ebenso starke religiöse Erhebung und Vertiefung,
die man auf protestantischer Seite unter die Bezeichnung Pietismus zusammen
zu fassen pflegt. Auch sie transpirirte sehr bald und sehr rasch in die ältere
Kirche >und brachte auch hier wahrhaft bedeutende, wenn auch äußerlich weniger
fühlbare Wirkungen hervor.

In dem einen Punkte liefen die Wirkungen beider Richtungen zusammen:
der Friede zwischen den Confessionen erschien nun nicht mehr als ein bloßes
Gebot der Weltklugheit oder der Politik, sondern als eine Forderung der Ver¬
nunft oder des religiösen Gewissens. Man wollte die Andersgläubigen nicht
bloß dulden, weil ihre Existenz sich nicht mehr rückgängig machen ließ, sondern
man suchte in ihrer Lehre und ihrem kirchlichen Leben dasjenige herauszufinden
und als allgemein christlich anzuerkennen, was beiden Theilen mehr und mehr
als die eigentlich fundamentalen Momente der Lehre und des Lebens im christ¬
lichen Geiste galt. So vollzog sich eine Versöhnung der Gemüther, die für
die deutsche Zukunft die erfreulichsten Aussichten gab. Gelang es dazu noch,
worauf z. B. die bekannte Emser Punctation unmittelbar vor der französischen
Revolution zielte, eine von dem römischen Einfluß möglichst unabhängige
Form der katholischen Kirchenverfassung im deutschen Reiche zu finden, so war
die Idee einer deutschen Nationalkirche, wie sie im Beginne der Reformation
das eigentliche Ziel der Führer gewesen, in erreichbare Nähe gerückt und damit
denn auch die Ausgleichung des tiefen Risses, den die Reformation oder viel¬
mehr die von den Jesuiten in Scene gesetzte Gegenreformation in unsere
Nation gebracht hatte. Der entschiedenst gläubige Katholik konnte sich mit
der vollsten Gewissensüberzeugung dieser Stimmung und Richtung des Zeit¬
geistes hingeben, ohne nur ein Jota von den Dogmen und der Disciplin seiner
Kirche fahren zu lassen, wie auf der andern Seite auch die gläubigsten Pro¬
testanten und vorzugsweise diese, entschlossen waren einem solchen Versöhnungs-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/287>, abgerufen am 22.07.2024.