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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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er nicht klein und besonders gestaltet, kein Abessinier einen Maria-Theresia-
thaler nehmen, in dem das Diadem der großbusigen Kaiserin nicht sieben
Perlen trägt.

In der russischen Industrie wiederholt sich etwas ähnliches. Die große
Masse des Volkes hat verhältnißmäßig noch wenig Bedürfnisse und es giebt
in Rußland noch jetzt Gegenden, in welchen die Bauern die Wolle noch selbst
spinnen und weben und das Tuch selbst walken, aus welchem sie ihre Kleider
fertigen. Trotzdem fällt der russischen Großindustrie die Ausgabe zu für die
Bedürfnisse von 50 Millionen Arbeitern und Bauern zu sorgen, die natürlich
nur rohe und grobe, aber dauerhafte Fabrikate verlangen. Die Qualität der
Erzeugnisse ist dadurch vorgeschrieben, die Industrie muß sich nach dem Ver¬
langen des Volkes richten und es wäre Unrecht ihr selbst daraus einen Vor¬
wurf zu machen, sie zu belächeln weil sie grobe Tücher, rohe Webstoffe, dicke
Stiefel und ordinäre Schafpelze liefert; denn SO--60 Millionen Menschen
verlangen diese groben, dauerhaften Stoffe in Rußland und keine zehn Milli¬
onen, die höheren Stände, der Adel wünschen feinere Waaren, die sie aber,
dem herrschenden Geschmacke nach, aus dem Auslande beziehen. Der eigent¬
liche Bürgerstand, die Mittelstufe, fehlt aber bekanntlich noch in Rußland und
damit fehlen Erzeugnisse von mittlerer Güte, die für diese Classe geeignet
wären. Doch auch die klimatischen Verhältnisse wirken in Rußland mehr als
in irgend einem andern Lande bestimmend auf die Erzeugnisse der Gewerb-
thätigkeit; einzelne Producte werden durch das Klima im Verbrauch begünstigt
und die langen Winter, die dem Bauer nicht gestatten im Freien zu arbeiten,
führen ihn zu einer industriellen Beschäftigung. Daher lassen in Rußland sich
Arbeiter- und Bauernstand nicht von einander trennen.

Um nur ein Beispiel herauszuheben. Die Bekleidungsstoffe müssen dem
rauhen nordischen Klima angemessen sein, daher die Fabrikation der festen,
groben, warmen Tücher, der Schnee- und wasserdichten Juchtenstiefeln, die ihrem
Zwecke entsprechen. Interessant ist es, wie der lange Winter die Landbe¬
völkerung in der Zeit, wenn das Feld nicht bestellt werden kann, zur Beschäf¬
tigung in den Fabriken zwingt. Die Löhne der Arbeiter sind daher auch im
Winter meist niedriger als im Sommer und die industrielle Hauptproductions-
zeit Rußlands fällt in den Winter. So sehr ist der Winter die eigentliche
Zeit der Gewerbthätigkeit, daß in Moskau und vielen Gouvernements des
Innern nach Ostern viele Fabriken auf Monate geschlossen werden, weil der
Arbeiter dann wieder zum Bauer wird. Wo die landwirtschaftlichen Ver¬
hältnisse überhaupt ungünstig liegen, hat sich eine ländliche Industrie einge¬
bürgert, die gegen sechs Millionen Menschen Beschäftigung gewährt und in
die Hausindustrie' und genossenschaftliche Industrie zerfällt.

Ueber die erstere, der Hausindustrie in unseren Gegenden gleichende,


er nicht klein und besonders gestaltet, kein Abessinier einen Maria-Theresia-
thaler nehmen, in dem das Diadem der großbusigen Kaiserin nicht sieben
Perlen trägt.

In der russischen Industrie wiederholt sich etwas ähnliches. Die große
Masse des Volkes hat verhältnißmäßig noch wenig Bedürfnisse und es giebt
in Rußland noch jetzt Gegenden, in welchen die Bauern die Wolle noch selbst
spinnen und weben und das Tuch selbst walken, aus welchem sie ihre Kleider
fertigen. Trotzdem fällt der russischen Großindustrie die Ausgabe zu für die
Bedürfnisse von 50 Millionen Arbeitern und Bauern zu sorgen, die natürlich
nur rohe und grobe, aber dauerhafte Fabrikate verlangen. Die Qualität der
Erzeugnisse ist dadurch vorgeschrieben, die Industrie muß sich nach dem Ver¬
langen des Volkes richten und es wäre Unrecht ihr selbst daraus einen Vor¬
wurf zu machen, sie zu belächeln weil sie grobe Tücher, rohe Webstoffe, dicke
Stiefel und ordinäre Schafpelze liefert; denn SO—60 Millionen Menschen
verlangen diese groben, dauerhaften Stoffe in Rußland und keine zehn Milli¬
onen, die höheren Stände, der Adel wünschen feinere Waaren, die sie aber,
dem herrschenden Geschmacke nach, aus dem Auslande beziehen. Der eigent¬
liche Bürgerstand, die Mittelstufe, fehlt aber bekanntlich noch in Rußland und
damit fehlen Erzeugnisse von mittlerer Güte, die für diese Classe geeignet
wären. Doch auch die klimatischen Verhältnisse wirken in Rußland mehr als
in irgend einem andern Lande bestimmend auf die Erzeugnisse der Gewerb-
thätigkeit; einzelne Producte werden durch das Klima im Verbrauch begünstigt
und die langen Winter, die dem Bauer nicht gestatten im Freien zu arbeiten,
führen ihn zu einer industriellen Beschäftigung. Daher lassen in Rußland sich
Arbeiter- und Bauernstand nicht von einander trennen.

Um nur ein Beispiel herauszuheben. Die Bekleidungsstoffe müssen dem
rauhen nordischen Klima angemessen sein, daher die Fabrikation der festen,
groben, warmen Tücher, der Schnee- und wasserdichten Juchtenstiefeln, die ihrem
Zwecke entsprechen. Interessant ist es, wie der lange Winter die Landbe¬
völkerung in der Zeit, wenn das Feld nicht bestellt werden kann, zur Beschäf¬
tigung in den Fabriken zwingt. Die Löhne der Arbeiter sind daher auch im
Winter meist niedriger als im Sommer und die industrielle Hauptproductions-
zeit Rußlands fällt in den Winter. So sehr ist der Winter die eigentliche
Zeit der Gewerbthätigkeit, daß in Moskau und vielen Gouvernements des
Innern nach Ostern viele Fabriken auf Monate geschlossen werden, weil der
Arbeiter dann wieder zum Bauer wird. Wo die landwirtschaftlichen Ver¬
hältnisse überhaupt ungünstig liegen, hat sich eine ländliche Industrie einge¬
bürgert, die gegen sechs Millionen Menschen Beschäftigung gewährt und in
die Hausindustrie' und genossenschaftliche Industrie zerfällt.

Ueber die erstere, der Hausindustrie in unseren Gegenden gleichende,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/26>, abgerufen am 22.07.2024.