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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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chen geboren, in dessen mißgestalteten Gesicht weder Augen noch Nase zu
sehen waren. Voll Verdruß bei der Unmöglichkeit, das arme Kind taufen
zu können, trugen zwei erbetene Personen, der brave Nachbar H. und dessen
Schwester A. das todte Kind zur wunderthätigen Gottesmutter nach Riffian
mit der festesten Hoffnung, in der dortigen wohlbekannten Wallfahrtskirche
Lebenszeichen zu erbitten, um dasselbe mindestens bedingungsweise taufen zu
können. Beide Wallfahrer kamen am selben Tage spät Abends in Riffian
an, trugen am folgenden Tage das Kind in die Kirche und beteten mit ganzer
Inbrunst der Seele während der Frühmesse um die erwünschten Zeichen des
Lebens. Und sieh! Das Kind wurde voll kalter Schweißtropfen, die früher
ganz unsichtbare Nase wurde übermäßig groß, und das linke Auge that sich
ein wenig auf. Voll Freude über die erwünschte Erscheinung trugen sie das
Kind nach der Frühmesse in den Widum, um es sehen und taufen zu lassen,
konnten aber alldort von einem Lebenszeichen nichts mehr entdecken. Sie
trugen daher das Kind wieder in die Kirche zurück, beteten während des
Ordinari-Gottesdienstes mit neuem Eifer für dessen Belebung und sahen zu
ihrer größten Freude die erstgenannten Zeichen noch einmal und ebenso auf¬
fallend, weshalb sie mit demselben das zweite Mal in den Widum zurückkehrten,
aber leider, wie das erste Mal, wieder vergebens. Sie kehrten das dritte
Mal in die Kirche zurück und beteten bis halb zehn Uhr, aber dieses Mal
ganz umsonst; denn es zeigte sich gar keine Aenderung mehr, weshalb sie ganz
blau und erstarrt vor Kälte das Gebet aufgaben, das Kind begraben ließen
und nach Mölten zurückkehrten. Groß war ihr Verdruß über ihre mißlungene
Sendung, sie wurden aber ganz untröstlich, als sie hörten, daß sie bei solchen
Lebenszeichen das Kind alsogleich ohne Verzug bedingungsweise hätten selbst
taufen können und sollen. Es ließ ihnen keine Ruhe mehr, bis sie wieder nach
Riffian pilgerten um den begangnen Fehler auszubessern.

Am 18. Jänner früh bei gewaltigem Schneegestöber und schauerlich
schlechtem Wege zogen dießmal zwei Pilgerinnen (statt des Nachbars H. dessen
Tochter I.) wieder nach Riffian mit dem festen Willen, bis zur Erhörung
ihrer Bitte nicht mehr nachzugeben und mit dem Kinde bis nach Trens zu
wandern, wenn sie in Riffian nicht erhöret werden sollten. Am 18. Jänner
Abends kamen sie in Riffian an und ersuchten den dortigen Todtengrciber,
das Kind wieder auszugraben, was er mit aller Bereitwilligkeit that. Das
Kind lag tief im Grabe durch vier Tage und Nächte, und schwere Steine
darauf, welche das nur in einem Tuche eingebundene Kind ganz zerdrückten.
Nur mit Mühe zog der Mann das unförmliche, keiner menschlichen Gestalt
ähnliche Kind hervor und warf dasselbe, an den Füßen faßend, vor der einen
Pilgerin auf den tiefen Schnee hinaus. Diese hatte lange Zeit nöthig, bis
sie sich auskannte, den Kopf, die Hände und Füße herausfand und die Miß-


chen geboren, in dessen mißgestalteten Gesicht weder Augen noch Nase zu
sehen waren. Voll Verdruß bei der Unmöglichkeit, das arme Kind taufen
zu können, trugen zwei erbetene Personen, der brave Nachbar H. und dessen
Schwester A. das todte Kind zur wunderthätigen Gottesmutter nach Riffian
mit der festesten Hoffnung, in der dortigen wohlbekannten Wallfahrtskirche
Lebenszeichen zu erbitten, um dasselbe mindestens bedingungsweise taufen zu
können. Beide Wallfahrer kamen am selben Tage spät Abends in Riffian
an, trugen am folgenden Tage das Kind in die Kirche und beteten mit ganzer
Inbrunst der Seele während der Frühmesse um die erwünschten Zeichen des
Lebens. Und sieh! Das Kind wurde voll kalter Schweißtropfen, die früher
ganz unsichtbare Nase wurde übermäßig groß, und das linke Auge that sich
ein wenig auf. Voll Freude über die erwünschte Erscheinung trugen sie das
Kind nach der Frühmesse in den Widum, um es sehen und taufen zu lassen,
konnten aber alldort von einem Lebenszeichen nichts mehr entdecken. Sie
trugen daher das Kind wieder in die Kirche zurück, beteten während des
Ordinari-Gottesdienstes mit neuem Eifer für dessen Belebung und sahen zu
ihrer größten Freude die erstgenannten Zeichen noch einmal und ebenso auf¬
fallend, weshalb sie mit demselben das zweite Mal in den Widum zurückkehrten,
aber leider, wie das erste Mal, wieder vergebens. Sie kehrten das dritte
Mal in die Kirche zurück und beteten bis halb zehn Uhr, aber dieses Mal
ganz umsonst; denn es zeigte sich gar keine Aenderung mehr, weshalb sie ganz
blau und erstarrt vor Kälte das Gebet aufgaben, das Kind begraben ließen
und nach Mölten zurückkehrten. Groß war ihr Verdruß über ihre mißlungene
Sendung, sie wurden aber ganz untröstlich, als sie hörten, daß sie bei solchen
Lebenszeichen das Kind alsogleich ohne Verzug bedingungsweise hätten selbst
taufen können und sollen. Es ließ ihnen keine Ruhe mehr, bis sie wieder nach
Riffian pilgerten um den begangnen Fehler auszubessern.

Am 18. Jänner früh bei gewaltigem Schneegestöber und schauerlich
schlechtem Wege zogen dießmal zwei Pilgerinnen (statt des Nachbars H. dessen
Tochter I.) wieder nach Riffian mit dem festen Willen, bis zur Erhörung
ihrer Bitte nicht mehr nachzugeben und mit dem Kinde bis nach Trens zu
wandern, wenn sie in Riffian nicht erhöret werden sollten. Am 18. Jänner
Abends kamen sie in Riffian an und ersuchten den dortigen Todtengrciber,
das Kind wieder auszugraben, was er mit aller Bereitwilligkeit that. Das
Kind lag tief im Grabe durch vier Tage und Nächte, und schwere Steine
darauf, welche das nur in einem Tuche eingebundene Kind ganz zerdrückten.
Nur mit Mühe zog der Mann das unförmliche, keiner menschlichen Gestalt
ähnliche Kind hervor und warf dasselbe, an den Füßen faßend, vor der einen
Pilgerin auf den tiefen Schnee hinaus. Diese hatte lange Zeit nöthig, bis
sie sich auskannte, den Kopf, die Hände und Füße herausfand und die Miß-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/178>, abgerufen am 25.08.2024.