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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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des älteren Zweiges der Bourbonen gesammelt. Ihre Echtheit ist natürlich
schwer festzustellen, da diejenigen, welche sie zusammengetragen haben, meist ein
Interesse daran haben, vorzüglich die Weissagungen hervorzuheben und zu be¬
tonen, die irgendwie in Erfüllung gegangen zu sein scheinen, die nicht einge-
troffnen dagegen zu verschweigen und aus dem sonstigen Stoff Anspielungen
auf die Gegenwart herauszulesen, an welche die Propheten schwerlich jemals
gedacht haben. Ueber den Werth solcher Phantasien ist selbstverständlich kein
Wort zu verlieren. Aber die Masse der Legitimisten erkennt die Nichtigkeit
derselben nicht. Sie glaubt blindlings an das einfältige Gerede.

Eins dieser Bücher nennt sich: "Der Großpapst und der Großkönig oder
geschichtliche Ueberlieferungen und das letzte Wort über die Prophezeiungen".
Es ist mit ausdrücklicher Genehmigung der kirchlichen Obern herausgegeben
und enthält nicht die eigentlichen Weissagungen, sondern nur "Studien" ge¬
wisser Priester und Abb^s über dieselben. Dagegen giebt ein anderes, welches
den Titel "der neue I^idsr nürabilis oder sämmtliche echte Prophezeiungen
über die gegenwärtigen Zeiten" führt, Bruchstücke aus mehr als hundert pro¬
phetischen Verkündigungen. Keine dieser Compilationen theilt die vollständige
Weissagung mit. Immer ist's nur ein Auszug, der als erfüllte Vorhersagung
ausgelegt werden oder den man eine Beziehung auf die sich vorbereitenden
Ereignisse geben kann. Da läuft ohne Zweifel mancher Zusatz, manche Er¬
dichtung mit unter, aber dem leichtgläubigen Publicum liegt nichts ferner, als
die Absicht, den Dingen näher auf den Zahn zu fühlen. Die Bücher sind
von Priestern herausgegeben oder durchgesehen, also muß es mit der Prophe¬
zeiung und dem ihr untergelegten Sinn seine volle Richtigkeit haben.

Der enorme Absatz dieser Bücher unter den Classen, die sonst als die
gebildetsten gelten -- ihren Hauptmarkt bildet die alte Aristokratie -- ist ein
wahres Zeichen der Zeit. Er zeigt den schärfsten Gegensatz gegen die Ver¬
neinung jedes Glaubens nicht blos an religiöse, sondern auch an gesellschaft¬
liche Satzungen, welche die extremsten Communisten bezeichnet. Jene Prophe¬
zeiungen beeinflussen das Verhalten derer, die an sie glauben, so unmittelbar,
daß es in der Provinz Familien giebt, die nur deshalb nicht nach Paris
kommen, weil sie fürchten, während ihrer Anwesenheit könnte das Strafgericht
über die gottlose Stadt hereinbrechen und zwar so rasch, daß auch für die
Unschuldigen kein Entrinnen wäre. "Erst dieser Tage," so erzählt der Times-
correspondent, "sprach ich eine Dame, die durch Familienrücksichten wider ihren
Willen in Paris zurückgehalten ist, und die mir sagte, sie gehe nie zu Bett,
ohne zu fürchten, daß in der Nacht die Katastrophe vor sich gehen könnte.
Die Prophezeiungen sind ihre tägliche Lectüre, sie kann lange Stellen von
diesem Altfranzösisch mit seinen räthselhaften Phrasen und seinen dunkeln An¬
spielungen auswendig. Und es sind keineswegs nur Frauen, auf deren Phan-


des älteren Zweiges der Bourbonen gesammelt. Ihre Echtheit ist natürlich
schwer festzustellen, da diejenigen, welche sie zusammengetragen haben, meist ein
Interesse daran haben, vorzüglich die Weissagungen hervorzuheben und zu be¬
tonen, die irgendwie in Erfüllung gegangen zu sein scheinen, die nicht einge-
troffnen dagegen zu verschweigen und aus dem sonstigen Stoff Anspielungen
auf die Gegenwart herauszulesen, an welche die Propheten schwerlich jemals
gedacht haben. Ueber den Werth solcher Phantasien ist selbstverständlich kein
Wort zu verlieren. Aber die Masse der Legitimisten erkennt die Nichtigkeit
derselben nicht. Sie glaubt blindlings an das einfältige Gerede.

Eins dieser Bücher nennt sich: „Der Großpapst und der Großkönig oder
geschichtliche Ueberlieferungen und das letzte Wort über die Prophezeiungen".
Es ist mit ausdrücklicher Genehmigung der kirchlichen Obern herausgegeben
und enthält nicht die eigentlichen Weissagungen, sondern nur „Studien" ge¬
wisser Priester und Abb^s über dieselben. Dagegen giebt ein anderes, welches
den Titel „der neue I^idsr nürabilis oder sämmtliche echte Prophezeiungen
über die gegenwärtigen Zeiten" führt, Bruchstücke aus mehr als hundert pro¬
phetischen Verkündigungen. Keine dieser Compilationen theilt die vollständige
Weissagung mit. Immer ist's nur ein Auszug, der als erfüllte Vorhersagung
ausgelegt werden oder den man eine Beziehung auf die sich vorbereitenden
Ereignisse geben kann. Da läuft ohne Zweifel mancher Zusatz, manche Er¬
dichtung mit unter, aber dem leichtgläubigen Publicum liegt nichts ferner, als
die Absicht, den Dingen näher auf den Zahn zu fühlen. Die Bücher sind
von Priestern herausgegeben oder durchgesehen, also muß es mit der Prophe¬
zeiung und dem ihr untergelegten Sinn seine volle Richtigkeit haben.

Der enorme Absatz dieser Bücher unter den Classen, die sonst als die
gebildetsten gelten — ihren Hauptmarkt bildet die alte Aristokratie — ist ein
wahres Zeichen der Zeit. Er zeigt den schärfsten Gegensatz gegen die Ver¬
neinung jedes Glaubens nicht blos an religiöse, sondern auch an gesellschaft¬
liche Satzungen, welche die extremsten Communisten bezeichnet. Jene Prophe¬
zeiungen beeinflussen das Verhalten derer, die an sie glauben, so unmittelbar,
daß es in der Provinz Familien giebt, die nur deshalb nicht nach Paris
kommen, weil sie fürchten, während ihrer Anwesenheit könnte das Strafgericht
über die gottlose Stadt hereinbrechen und zwar so rasch, daß auch für die
Unschuldigen kein Entrinnen wäre. „Erst dieser Tage," so erzählt der Times-
correspondent, „sprach ich eine Dame, die durch Familienrücksichten wider ihren
Willen in Paris zurückgehalten ist, und die mir sagte, sie gehe nie zu Bett,
ohne zu fürchten, daß in der Nacht die Katastrophe vor sich gehen könnte.
Die Prophezeiungen sind ihre tägliche Lectüre, sie kann lange Stellen von
diesem Altfranzösisch mit seinen räthselhaften Phrasen und seinen dunkeln An¬
spielungen auswendig. Und es sind keineswegs nur Frauen, auf deren Phan-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/172>, abgerufen am 01.10.2024.