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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Mehr als zwei Jahrhunderte waren auf die allmählige Entfernung der Stroh-
dcicher innerhalb der Stadt dahingegangen; Weimar wies trotzdem noch im
2. Decennium unsres Jahrhunderts solche auf, weil es in der That eine starke
Zumuthung war, dem gebrechlichen Unterbau die Ziegeldachung anzusinnen.
Schindeldächer, die immer wieder sorgfältig ausgebessert wurden und damit
eine völlige lang dauernde Erneuerung erfuhren, gab es daher noch in Menge,
und wenn wir jetzt nach dem heute allerdings relativen, aber immerhin einen
Anhaltepunkt gewährenden Tarwerth der weimarischen Häuser fragen, so ist
das Bild Weimars in der ganzen Periode Goethe's kein erfreuliches zu nennen.
Unter 763 Häusern, welche die Residenz 1802 besaß, konnte man 1S2 jedes zu
400 Thaler, eine gleich große Anzahl zu je 200 Thaler erwerben; einen Werth
von 10--20000 Thaler hatten überhaupt nur 4 Anwesen. Fürwahr, da be¬
greifen wir, mit welchem Rechte Herder einst Weimar ein Mittelding zwischen
Dorf und Stadt genannt hatte.

Nur durch die seit 1800 etwas in den Schwung gekommene Abtünchung
der Häuser half man dem freundlichen Aussehen der Stadt auf, und obwohl
die Stadtordnung von 1810 manches Uebel beseitigt hatte, z. B. die Stadt
seitdem in 6 Bezirke getheilt war, so fehlten 1813 noch viele Hausnummern,
deren Ersatz die Oberbehörde als "anmaßend" bezeichnete, weil man die be¬
deutende Summe von 80 Thaler darauf verwenden wollte. Carl August wie
Goethe haben überall den besten Willen bekundet, zur Verschönerung zu
wirken, wenn auch darin nicht der Schwerpunkt ihrer Thätigkeit zu suchen ist.
Aber es'wcir ein gefährlich Ding; einreiszen ließ sich leicht; eine andere Frage war,
wie weit, und wie das Neue mit dem Alten verbinden und in vollen Ein¬
klang setzen. In dieser Beziehung ist ein noch unbekannter Brief Goethe's
aus dem Anfang des Jahrhunderts lehrreich, in dem er sagt: "Aufrichtig muß
ich sagen, daß ich an der ganzen Operation keine sonderliche Freude habe.
Denn wenn wir uns mit dem Niederreißungssystem vom Schloß
aus auch gegen die Stadt zuwenden, so müßten wir -- alles der
Erde gleich machen . . Ich würde vielmehr . . das Zudeckungssystem
anrathen."

So blieb manches frommer Wunsch. 1818 gestaltete sich aber der Carls¬
platz zur Promenade, wo Wagen und Ackergeräthe bisher ihre Stelle fanden.
Die einzige wenigstens damals nach Lage der Verkehrsverhältnisse angemessene
Erweiterung der Stadt nach Westen scheiterte sogar an der Verlegung des
städtischen Arbeitshauses. Unendlich viel trug die langsam vorschreitende Be¬
völkerung zur besseren Entfaltung der Stadt bei, die in einem vollen Jahr¬
hundert von 1700--1800 sogar eine rückgängige Bewegung gezeigt hatte, da
183S3 geboren, 18590 aber gestorben waren. Nach archivalischen Nachrichten
und gedruckten Quellen wuchs aber die Bevölkerung in der klassischen


Mehr als zwei Jahrhunderte waren auf die allmählige Entfernung der Stroh-
dcicher innerhalb der Stadt dahingegangen; Weimar wies trotzdem noch im
2. Decennium unsres Jahrhunderts solche auf, weil es in der That eine starke
Zumuthung war, dem gebrechlichen Unterbau die Ziegeldachung anzusinnen.
Schindeldächer, die immer wieder sorgfältig ausgebessert wurden und damit
eine völlige lang dauernde Erneuerung erfuhren, gab es daher noch in Menge,
und wenn wir jetzt nach dem heute allerdings relativen, aber immerhin einen
Anhaltepunkt gewährenden Tarwerth der weimarischen Häuser fragen, so ist
das Bild Weimars in der ganzen Periode Goethe's kein erfreuliches zu nennen.
Unter 763 Häusern, welche die Residenz 1802 besaß, konnte man 1S2 jedes zu
400 Thaler, eine gleich große Anzahl zu je 200 Thaler erwerben; einen Werth
von 10—20000 Thaler hatten überhaupt nur 4 Anwesen. Fürwahr, da be¬
greifen wir, mit welchem Rechte Herder einst Weimar ein Mittelding zwischen
Dorf und Stadt genannt hatte.

Nur durch die seit 1800 etwas in den Schwung gekommene Abtünchung
der Häuser half man dem freundlichen Aussehen der Stadt auf, und obwohl
die Stadtordnung von 1810 manches Uebel beseitigt hatte, z. B. die Stadt
seitdem in 6 Bezirke getheilt war, so fehlten 1813 noch viele Hausnummern,
deren Ersatz die Oberbehörde als „anmaßend" bezeichnete, weil man die be¬
deutende Summe von 80 Thaler darauf verwenden wollte. Carl August wie
Goethe haben überall den besten Willen bekundet, zur Verschönerung zu
wirken, wenn auch darin nicht der Schwerpunkt ihrer Thätigkeit zu suchen ist.
Aber es'wcir ein gefährlich Ding; einreiszen ließ sich leicht; eine andere Frage war,
wie weit, und wie das Neue mit dem Alten verbinden und in vollen Ein¬
klang setzen. In dieser Beziehung ist ein noch unbekannter Brief Goethe's
aus dem Anfang des Jahrhunderts lehrreich, in dem er sagt: „Aufrichtig muß
ich sagen, daß ich an der ganzen Operation keine sonderliche Freude habe.
Denn wenn wir uns mit dem Niederreißungssystem vom Schloß
aus auch gegen die Stadt zuwenden, so müßten wir — alles der
Erde gleich machen . . Ich würde vielmehr . . das Zudeckungssystem
anrathen."

So blieb manches frommer Wunsch. 1818 gestaltete sich aber der Carls¬
platz zur Promenade, wo Wagen und Ackergeräthe bisher ihre Stelle fanden.
Die einzige wenigstens damals nach Lage der Verkehrsverhältnisse angemessene
Erweiterung der Stadt nach Westen scheiterte sogar an der Verlegung des
städtischen Arbeitshauses. Unendlich viel trug die langsam vorschreitende Be¬
völkerung zur besseren Entfaltung der Stadt bei, die in einem vollen Jahr¬
hundert von 1700—1800 sogar eine rückgängige Bewegung gezeigt hatte, da
183S3 geboren, 18590 aber gestorben waren. Nach archivalischen Nachrichten
und gedruckten Quellen wuchs aber die Bevölkerung in der klassischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/13>, abgerufen am 22.07.2024.