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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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also gerade das Gegentheil von dem, was zu der epischen Geisteshaltung gehört.
Aller Realismus aber, der aus der Poesie eben deshalb völlig verbannt wurde,
und doch so unwiderstehlich den Volksgeist anzog, mußte sich in die Prosa
flüchten. Prosaische Erzählung in ausgebildeter Technik ist überall wo es ein
Epos gegeben hat, ganz naturgemäß neben der Poesie einhergegangen, hat sie
gestützt und getragen, aber immer nur in dienender Gestalt und deshalb meist
unbemerkbar für eine spätere Zeit, die sich bloß der zu eigentlich künstlerischem
Abschluß gelangten poetischen Erzeugnisse erinnerte. Wollen wir nach analogen
Entwickelungszuständen uns umsehen, so bietet sich die Periode der griechischen
Lvgographie und Mythographie, welche sich unmittelbar aus dem Epos ablöste,
aber freilich mit dem durchgreifenden Unterschiede, daß der Norden zu dieser
prosaischen Gestaltung gleichsam nur durch eine latente, aber nicht durch eine
reale epische Periode gelangt, während bei den Griechen hier wie überall jede
Htufe und jedes Glied sich reinlich und völlig entfaltete und auflebte.

Alle diese Erzeugnisse der nordischen Prosa führen den allgemeinen Namen
Saga, bei dem man nur jede Reminiscenz an den Begriff, den das Wort bei
uns jetzt gewonnen hat, aufgeben muß. Saga heißt nichts mehr und minder als
eine Erzählung in gebildeter Form, ohne jede Beziehung auf den Inhalt oder
höchstens insoweit, daß dieser als ein überlieferter vorausgesetzt wird. Diese
Ueberlieferung kann eine schriftliche oder mündliche, einheimische oder fremde
sein; sie gilt in jedem Falle dem Erzähler, der sich hierin als ein ächter Sohn
des Mittelalters beweist, dem jede Spur historischer Quellenkritik fehlte, als
eine sichere. Selbst wenn, was nicht selten vorkommt, mehrere auseinander¬
gehende Ueberlieferungen desselben Factums dem Erzähler bekannt wurden,
macht er keinen Versuch sie kritisch gegen einander abzuwägen, sondern er führt
sie einfach nebeneinander an und es hält oft schwer herauszuspüren, welcher
sich sein subjektives Gefühl am meisten, nicht als der richtigsten, sondern als
der ihm anmuthenden zuneigte. Auf diese Art laufen die modernen Vor¬
stellungen von Sage und Geschichte, die uns so völlige Gegensätze dünken,
hier wie bei den Vorgängern Herodots ungeschieden in und durcheinander.
Will man die einzelnen Sagen mit modernen Augen darauf ansehen, ob sie
Sagen in unserm Sinn oder Geschichte sind, so muß man diesen Umstand
nie vergessen. Man muß von vorn herein gefaßt sein, immer Beiden zugleich
zu begegnen. Aber die Mischungsverhältnisse sind unendlich verschieden. Es
giebt Sagen von größtem Umfang und reichster Ausbildung des Stiles und
der Technik, in denen fast nichts von geschichtlichen Bestandtheilen in unserm
Sinn gefunden wird, so die Völsungesage, welche das Geschlecht und die
Thaten Sigurds, unseres Sigfrids in nordischer Namensform, darstellt, oder
die größte und reichste von allen, die Dietrichssage, sonst wohl auch Wilkina-
sage genannt, in der sich der ganze epische Cyclus der deutschen Germanen,


also gerade das Gegentheil von dem, was zu der epischen Geisteshaltung gehört.
Aller Realismus aber, der aus der Poesie eben deshalb völlig verbannt wurde,
und doch so unwiderstehlich den Volksgeist anzog, mußte sich in die Prosa
flüchten. Prosaische Erzählung in ausgebildeter Technik ist überall wo es ein
Epos gegeben hat, ganz naturgemäß neben der Poesie einhergegangen, hat sie
gestützt und getragen, aber immer nur in dienender Gestalt und deshalb meist
unbemerkbar für eine spätere Zeit, die sich bloß der zu eigentlich künstlerischem
Abschluß gelangten poetischen Erzeugnisse erinnerte. Wollen wir nach analogen
Entwickelungszuständen uns umsehen, so bietet sich die Periode der griechischen
Lvgographie und Mythographie, welche sich unmittelbar aus dem Epos ablöste,
aber freilich mit dem durchgreifenden Unterschiede, daß der Norden zu dieser
prosaischen Gestaltung gleichsam nur durch eine latente, aber nicht durch eine
reale epische Periode gelangt, während bei den Griechen hier wie überall jede
Htufe und jedes Glied sich reinlich und völlig entfaltete und auflebte.

Alle diese Erzeugnisse der nordischen Prosa führen den allgemeinen Namen
Saga, bei dem man nur jede Reminiscenz an den Begriff, den das Wort bei
uns jetzt gewonnen hat, aufgeben muß. Saga heißt nichts mehr und minder als
eine Erzählung in gebildeter Form, ohne jede Beziehung auf den Inhalt oder
höchstens insoweit, daß dieser als ein überlieferter vorausgesetzt wird. Diese
Ueberlieferung kann eine schriftliche oder mündliche, einheimische oder fremde
sein; sie gilt in jedem Falle dem Erzähler, der sich hierin als ein ächter Sohn
des Mittelalters beweist, dem jede Spur historischer Quellenkritik fehlte, als
eine sichere. Selbst wenn, was nicht selten vorkommt, mehrere auseinander¬
gehende Ueberlieferungen desselben Factums dem Erzähler bekannt wurden,
macht er keinen Versuch sie kritisch gegen einander abzuwägen, sondern er führt
sie einfach nebeneinander an und es hält oft schwer herauszuspüren, welcher
sich sein subjektives Gefühl am meisten, nicht als der richtigsten, sondern als
der ihm anmuthenden zuneigte. Auf diese Art laufen die modernen Vor¬
stellungen von Sage und Geschichte, die uns so völlige Gegensätze dünken,
hier wie bei den Vorgängern Herodots ungeschieden in und durcheinander.
Will man die einzelnen Sagen mit modernen Augen darauf ansehen, ob sie
Sagen in unserm Sinn oder Geschichte sind, so muß man diesen Umstand
nie vergessen. Man muß von vorn herein gefaßt sein, immer Beiden zugleich
zu begegnen. Aber die Mischungsverhältnisse sind unendlich verschieden. Es
giebt Sagen von größtem Umfang und reichster Ausbildung des Stiles und
der Technik, in denen fast nichts von geschichtlichen Bestandtheilen in unserm
Sinn gefunden wird, so die Völsungesage, welche das Geschlecht und die
Thaten Sigurds, unseres Sigfrids in nordischer Namensform, darstellt, oder
die größte und reichste von allen, die Dietrichssage, sonst wohl auch Wilkina-
sage genannt, in der sich der ganze epische Cyclus der deutschen Germanen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/102>, abgerufen am 22.07.2024.