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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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manischen Anlage, die ja weiter zurück begreiflich desto mehr Züge völliger
oder nächster Identität trägt, in diesem einen Punkt eine so ganz verschiedene
Ausstattung annehmen? Dafür spricht nichts außer eben das Bedürfniß der
Antwort auf diese Frage. Aber sie läßt sich, wie uns scheint, doch auch von
einer ganz andern Seite her geben. Deutsche und Angelsachsen sind sehr frühe
in die Mitte des großen weltgeschichtlichen Stromes gerissen worden und lange
bevor ein christlicher Missionär ihnen das Evangelium predigte, hat der Geist
der antiken Cultur befruchtend auf ihre Volksseele gewirkt, ohne daß man
seine Einwirkungen mit Händen greifen konnte, oder daß sie selbst sie wahrge¬
nommen hätten. Ohne es zu wissen, erweiterte sich ihr Horizont zu einem
weltgeschichtlichen im Sinn ihrer Zeit und dieß ist für jedes Volk die noth¬
wendige Vorbedingung der epischen Periode, zwar nicht die einzige, aber eine
so bedeutsame, daß wo sie fehlt, alle die andern epischen Elemente zu keiner
vollen Wirksamkeit gelangen.

Denkt man sich nun auch, wie es allein richtig zu sein scheint, die poetische
Ausstattung aller Germanen ursprünglich gleich, so begreift es sich, wie der
isolirte Norden, der sich sehr bald mit reflectirtem Bewußtsein diese seine Ab-
geschlossenheit gegen die Welt zu behaupten anschickte -- wir erinnern nur
an die Periode der Wikinger Zeit, der sogenannten Nordmannenzüge, die inner¬
lich denselben Gegensatz zu der christlich-europäischen Welt darstellen, wie die
Kämpfe der islamitischen oder saracenischen Bedränger derselben -- wie er
über die Zeit hinüber kam, in der allein ein Epos geschaffen werden konnte.
Epischer Stoff hatte sich in unendlicher Fülle angehäuft, ebenso sehr aus der
gemeinsamen Vergangenheit aller Germanen, wie aus der besonderen Thatsäch¬
lichkeit der nordischen Gegenwart,, aber er konnte nicht mehr als poetisches
Epos verarbeitet werden. Es blieb für ihn keine andere Form als die Prosa
übrig, wenn er zu voller Wirksamkeit gelangen d. h. wenn die Zeit sich selbst
in seinen Gestalten wieder erkennen und in ihnen ein verklärtes Leben führen
sollte, wie sie es als Gegengewicht gegen die ungeheuren Thaten und Begeben¬
heiten der Wirklichkeit bedürfte. So haben die Scandinavier ein Helden¬
zeitalter ohne Heldenpoesie durchlebt, denn was sich davon in poetischer Form
niederschlug, erstarrte sofort, weil es in den Canon einer in ihrem Prinzip
und ihren Formen eigentlich antiquirten Kunst gepreßt wurde. Sie vermochte
wohl noch die äußersten Spitzen und Subtilitäten ihrer Technik mit einem
wahrhaft staunenswerthen Raffinement auszubilden, wofür die gesammte
Skaldendichtung das unwiderleglichste Zeugniß gewährt, aber sie vermochte
nicht etwas ganz anderes zu werden als sie war. Alles was von Idealis¬
mus in der scandinavischen Kunstanlage enthalten war, heftete sich an die
Virtuosität in Metrik und Rhythmus, und fast noch mehr an die künst¬
lichsten Spiele des Witzes im metaphorischen und allegorischen Ausdruck,


manischen Anlage, die ja weiter zurück begreiflich desto mehr Züge völliger
oder nächster Identität trägt, in diesem einen Punkt eine so ganz verschiedene
Ausstattung annehmen? Dafür spricht nichts außer eben das Bedürfniß der
Antwort auf diese Frage. Aber sie läßt sich, wie uns scheint, doch auch von
einer ganz andern Seite her geben. Deutsche und Angelsachsen sind sehr frühe
in die Mitte des großen weltgeschichtlichen Stromes gerissen worden und lange
bevor ein christlicher Missionär ihnen das Evangelium predigte, hat der Geist
der antiken Cultur befruchtend auf ihre Volksseele gewirkt, ohne daß man
seine Einwirkungen mit Händen greifen konnte, oder daß sie selbst sie wahrge¬
nommen hätten. Ohne es zu wissen, erweiterte sich ihr Horizont zu einem
weltgeschichtlichen im Sinn ihrer Zeit und dieß ist für jedes Volk die noth¬
wendige Vorbedingung der epischen Periode, zwar nicht die einzige, aber eine
so bedeutsame, daß wo sie fehlt, alle die andern epischen Elemente zu keiner
vollen Wirksamkeit gelangen.

Denkt man sich nun auch, wie es allein richtig zu sein scheint, die poetische
Ausstattung aller Germanen ursprünglich gleich, so begreift es sich, wie der
isolirte Norden, der sich sehr bald mit reflectirtem Bewußtsein diese seine Ab-
geschlossenheit gegen die Welt zu behaupten anschickte — wir erinnern nur
an die Periode der Wikinger Zeit, der sogenannten Nordmannenzüge, die inner¬
lich denselben Gegensatz zu der christlich-europäischen Welt darstellen, wie die
Kämpfe der islamitischen oder saracenischen Bedränger derselben — wie er
über die Zeit hinüber kam, in der allein ein Epos geschaffen werden konnte.
Epischer Stoff hatte sich in unendlicher Fülle angehäuft, ebenso sehr aus der
gemeinsamen Vergangenheit aller Germanen, wie aus der besonderen Thatsäch¬
lichkeit der nordischen Gegenwart,, aber er konnte nicht mehr als poetisches
Epos verarbeitet werden. Es blieb für ihn keine andere Form als die Prosa
übrig, wenn er zu voller Wirksamkeit gelangen d. h. wenn die Zeit sich selbst
in seinen Gestalten wieder erkennen und in ihnen ein verklärtes Leben führen
sollte, wie sie es als Gegengewicht gegen die ungeheuren Thaten und Begeben¬
heiten der Wirklichkeit bedürfte. So haben die Scandinavier ein Helden¬
zeitalter ohne Heldenpoesie durchlebt, denn was sich davon in poetischer Form
niederschlug, erstarrte sofort, weil es in den Canon einer in ihrem Prinzip
und ihren Formen eigentlich antiquirten Kunst gepreßt wurde. Sie vermochte
wohl noch die äußersten Spitzen und Subtilitäten ihrer Technik mit einem
wahrhaft staunenswerthen Raffinement auszubilden, wofür die gesammte
Skaldendichtung das unwiderleglichste Zeugniß gewährt, aber sie vermochte
nicht etwas ganz anderes zu werden als sie war. Alles was von Idealis¬
mus in der scandinavischen Kunstanlage enthalten war, heftete sich an die
Virtuosität in Metrik und Rhythmus, und fast noch mehr an die künst¬
lichsten Spiele des Witzes im metaphorischen und allegorischen Ausdruck,


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[0101] manischen Anlage, die ja weiter zurück begreiflich desto mehr Züge völliger oder nächster Identität trägt, in diesem einen Punkt eine so ganz verschiedene Ausstattung annehmen? Dafür spricht nichts außer eben das Bedürfniß der Antwort auf diese Frage. Aber sie läßt sich, wie uns scheint, doch auch von einer ganz andern Seite her geben. Deutsche und Angelsachsen sind sehr frühe in die Mitte des großen weltgeschichtlichen Stromes gerissen worden und lange bevor ein christlicher Missionär ihnen das Evangelium predigte, hat der Geist der antiken Cultur befruchtend auf ihre Volksseele gewirkt, ohne daß man seine Einwirkungen mit Händen greifen konnte, oder daß sie selbst sie wahrge¬ nommen hätten. Ohne es zu wissen, erweiterte sich ihr Horizont zu einem weltgeschichtlichen im Sinn ihrer Zeit und dieß ist für jedes Volk die noth¬ wendige Vorbedingung der epischen Periode, zwar nicht die einzige, aber eine so bedeutsame, daß wo sie fehlt, alle die andern epischen Elemente zu keiner vollen Wirksamkeit gelangen. Denkt man sich nun auch, wie es allein richtig zu sein scheint, die poetische Ausstattung aller Germanen ursprünglich gleich, so begreift es sich, wie der isolirte Norden, der sich sehr bald mit reflectirtem Bewußtsein diese seine Ab- geschlossenheit gegen die Welt zu behaupten anschickte — wir erinnern nur an die Periode der Wikinger Zeit, der sogenannten Nordmannenzüge, die inner¬ lich denselben Gegensatz zu der christlich-europäischen Welt darstellen, wie die Kämpfe der islamitischen oder saracenischen Bedränger derselben — wie er über die Zeit hinüber kam, in der allein ein Epos geschaffen werden konnte. Epischer Stoff hatte sich in unendlicher Fülle angehäuft, ebenso sehr aus der gemeinsamen Vergangenheit aller Germanen, wie aus der besonderen Thatsäch¬ lichkeit der nordischen Gegenwart,, aber er konnte nicht mehr als poetisches Epos verarbeitet werden. Es blieb für ihn keine andere Form als die Prosa übrig, wenn er zu voller Wirksamkeit gelangen d. h. wenn die Zeit sich selbst in seinen Gestalten wieder erkennen und in ihnen ein verklärtes Leben führen sollte, wie sie es als Gegengewicht gegen die ungeheuren Thaten und Begeben¬ heiten der Wirklichkeit bedürfte. So haben die Scandinavier ein Helden¬ zeitalter ohne Heldenpoesie durchlebt, denn was sich davon in poetischer Form niederschlug, erstarrte sofort, weil es in den Canon einer in ihrem Prinzip und ihren Formen eigentlich antiquirten Kunst gepreßt wurde. Sie vermochte wohl noch die äußersten Spitzen und Subtilitäten ihrer Technik mit einem wahrhaft staunenswerthen Raffinement auszubilden, wofür die gesammte Skaldendichtung das unwiderleglichste Zeugniß gewährt, aber sie vermochte nicht etwas ganz anderes zu werden als sie war. Alles was von Idealis¬ mus in der scandinavischen Kunstanlage enthalten war, heftete sich an die Virtuosität in Metrik und Rhythmus, und fast noch mehr an die künst¬ lichsten Spiele des Witzes im metaphorischen und allegorischen Ausdruck,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/101>, abgerufen am 22.07.2024.