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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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geben sollte; endlich daß eine Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen
und eine Gemeindeordnung für die Rheinprovinz erlassen werden sollte. In
Ausführung dieses Gesetzes und in Betreff der Rheinprovinz über dasselbe
hinaus hat dann wirklich das Ministerium Westfalen nicht weniger als sieben
Gemeindeordnungsgesetze zu Wege gebracht. Nämlich zwei Städteordnungen
sür die sechs östlichen Provinzen, je eine Städteordnung und eine Landge¬
meindeordnung für Westfalen und die Rheinprovinz und endlich ein nur for¬
melles, materiell die alten Zustände conservirendes Landgemeindegesetz für die
sechs östlichen Provinzen. Hinter dieser gesetzgeberischen Fruchtbarkeit steckte
nichts als staatsgefährlicher Particularismus und eine gegen alle wahrhaft
organischen, für die Erzeugung einer lebendigen Staatsgesinnung so dringend
nothwendigen Bildungen sich verstockende Impotenz. Nach dem Eintritt der
sogenannten neuen Aera legte der Graf Schwerin, damals Minister des Innern,
einen Kreisordnungsentwurf zweimal dem Landtag vor, zuerst im März 1860
dem Abgeordnetenhaus und im Januar 1862 dem Herrenhaus. Die erste
Vorlage wurde durch den Schluß der Session, die zweite durch den Fall des
Ministeriums vereitelt. Das Ministerium v. d. Heydt bezeigte zwar Anfangs
Neigung, die liberalen Vorlagen, die seine Vorgänger eingebracht, weiter zu
verfechten. Als aber der Versuch, sich mit dem Abgeordnetenhaus über die
Militärreform zu einigen, auch diesem Ministerium gänzlich mißlungen war,
hatte alle Gesetzgebung vorläufig ein Ende. Die Conflictsperiode schloß be¬
kanntlich 1866; aber erst im September 1869 brachte der Minister des
Innern. Graf Eulenburg, wiederum den Entwurf einer Kreisordnung in den
Landtag. Auch diesmal gelangte das Gesetz noch nicht einmal im Abgeord¬
netenhaus zur völligen Durchberathung. Die Meinungsverschiedenheiten
waren viel zu eingreifend und zahlreich, um einen raschen Gang der Be¬
rathung zu gestatten. Noch viel geringer war die Aussicht auf eine schlie߬
liche Annahme des von widersprechenden Majoritätsbeschlüssen jeder Einheit
des Grundgedankens beraubten Gesetzes auch nur im Abgeordnetenhause, ge¬
schweige denn auf die gemeinschaftliche Zustimmung beider Häuser des Landtags.
Im December vorigen Jahres ist der Entwurf in veränderter Gestalt wieder¬
um eingebracht worden. Eine aus den verschiedenen Parteien zusammenge¬
setzte Commission hat Alles aufgewendet, dem Kompromiß, welches dem Ge¬
setz allein die Mehrheit verschaffen kann, schon in den Commissionsbeschlüssen
die allseitig annehmbare Gestalt zu geben. An dieser Arbeit hat sich auch
die Regierung betheiligt, und so darf man hoffen, daß das Gesetz, von einer
großen Mehrheit des Abgeordnetenhauses angenommen, von der Regierung
diejenige Unterstützung erhält, welche ihm die Genehmigung des Herrenhauses
sichert.

Wir vermögen in die so oft gehörte Klage über das verspätete Werk


geben sollte; endlich daß eine Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen
und eine Gemeindeordnung für die Rheinprovinz erlassen werden sollte. In
Ausführung dieses Gesetzes und in Betreff der Rheinprovinz über dasselbe
hinaus hat dann wirklich das Ministerium Westfalen nicht weniger als sieben
Gemeindeordnungsgesetze zu Wege gebracht. Nämlich zwei Städteordnungen
sür die sechs östlichen Provinzen, je eine Städteordnung und eine Landge¬
meindeordnung für Westfalen und die Rheinprovinz und endlich ein nur for¬
melles, materiell die alten Zustände conservirendes Landgemeindegesetz für die
sechs östlichen Provinzen. Hinter dieser gesetzgeberischen Fruchtbarkeit steckte
nichts als staatsgefährlicher Particularismus und eine gegen alle wahrhaft
organischen, für die Erzeugung einer lebendigen Staatsgesinnung so dringend
nothwendigen Bildungen sich verstockende Impotenz. Nach dem Eintritt der
sogenannten neuen Aera legte der Graf Schwerin, damals Minister des Innern,
einen Kreisordnungsentwurf zweimal dem Landtag vor, zuerst im März 1860
dem Abgeordnetenhaus und im Januar 1862 dem Herrenhaus. Die erste
Vorlage wurde durch den Schluß der Session, die zweite durch den Fall des
Ministeriums vereitelt. Das Ministerium v. d. Heydt bezeigte zwar Anfangs
Neigung, die liberalen Vorlagen, die seine Vorgänger eingebracht, weiter zu
verfechten. Als aber der Versuch, sich mit dem Abgeordnetenhaus über die
Militärreform zu einigen, auch diesem Ministerium gänzlich mißlungen war,
hatte alle Gesetzgebung vorläufig ein Ende. Die Conflictsperiode schloß be¬
kanntlich 1866; aber erst im September 1869 brachte der Minister des
Innern. Graf Eulenburg, wiederum den Entwurf einer Kreisordnung in den
Landtag. Auch diesmal gelangte das Gesetz noch nicht einmal im Abgeord¬
netenhaus zur völligen Durchberathung. Die Meinungsverschiedenheiten
waren viel zu eingreifend und zahlreich, um einen raschen Gang der Be¬
rathung zu gestatten. Noch viel geringer war die Aussicht auf eine schlie߬
liche Annahme des von widersprechenden Majoritätsbeschlüssen jeder Einheit
des Grundgedankens beraubten Gesetzes auch nur im Abgeordnetenhause, ge¬
schweige denn auf die gemeinschaftliche Zustimmung beider Häuser des Landtags.
Im December vorigen Jahres ist der Entwurf in veränderter Gestalt wieder¬
um eingebracht worden. Eine aus den verschiedenen Parteien zusammenge¬
setzte Commission hat Alles aufgewendet, dem Kompromiß, welches dem Ge¬
setz allein die Mehrheit verschaffen kann, schon in den Commissionsbeschlüssen
die allseitig annehmbare Gestalt zu geben. An dieser Arbeit hat sich auch
die Regierung betheiligt, und so darf man hoffen, daß das Gesetz, von einer
großen Mehrheit des Abgeordnetenhauses angenommen, von der Regierung
diejenige Unterstützung erhält, welche ihm die Genehmigung des Herrenhauses
sichert.

Wir vermögen in die so oft gehörte Klage über das verspätete Werk


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/84>, abgerufen am 22.07.2024.