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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Augenmerk und seine Stärke. Eine Schranke seiner Begabung mag man das
vielleicht nennen, -- aber welche Fülle von Leistungen sind schon in diesen
Schranken enthalten! Welch ein Reichthum köstlicher Gaben ist uns bis¬
her schon in Betrachtungen mannichfaltiger Richtung von ihm dargeboten
worden! --

Treitschke ist ein Meister der essayistischen Form. Früher von uns
Deutschen wenig gekannt, wenig geübt und gering geachtet, hat der historische
Essay in den letzten zwei Jahrzehnten eine große Rolle bei uns zu spielen an¬
gefangen. Demjenigen, der ihn zu handhaben versteht, bietet er große Be¬
quemlichkeiten dar. Ein Autor, der einen gegebenen historischen Stoff zu be¬
handeln sich vorsetzt, darf in dem Essay subjectiver Neigung mehr die Zügel
schießen lassen, als in einem ausführlicheren Buche: ihm ist es gestattet, nur
diejenigen Seiten zu behandeln, die ihn besonders anziehen oder auf die er
ein besonders neues Licht werfen will. Niemals erwartet der Leser von dem
Essay, daß der Gegenstand erschöpft, oder daß er von allen Seiten angefaßt
oder daß alles nothwendige Material herbeigeschafft werde. Alles, was be¬
kannter ist, alles, was früher schon firirt ist, darf im Essay vorausgesetzt wer¬
den : ein kurzer Hinweis, oft nur eine Andeutung oder Anspielung genügt.
Der Historiker, der eine Geschichtsgruppe rein historisch darstellen will, hat
meistens neben dem, was ihm eigen ist, noch allerlei zu referiren, was seine
Vorgänger schon gesagt haben. Bei einem größeren Gegenstande kann auch
das gar nicht ausbleiben, daß er über Strecken Weges zu wandeln hat, die
ihm selbst dürr oder langweilig vorkommen. Der Leser eines historischen
Buches fordert mit Recht, daß das Ganze des Ereignisses ihm vorgelegt
werde. Aller solcher Fesseln ist der Essayist ledig. Was er nicht berühren
will, läßt er liegen, oder macht es mit einem kurzen Seitenworte ab. Nur
die gerade ihn anziehenden Momente wählt er zu eingehenderer Behandlung,
-- was Wunder, daß seine Darstellung lebendiger, intensiver, unmittelbarer
ist und leichter den Beifall des Publicums erntet, als ein mit der größten
Kunst und mit der vollendetsten Wissenschaft gearbeitetes Buch! -- Wer jetzt
die verschiedenen Arbeiten Treitschke's im Zusammenhange überblickt, wird den
Unterschied sich klar machen können. Er wird sehen, wie die Studien dieses
Schriftstellers das ganze deutsche Leben unseres Jahrhunderts mit allen seinen
Interessen der verschiedensten Art umfaßt und umspannt haben. Und er wird,
eben den Blick auf das Ganze der Arbeit geheftet, gewahr werden, wie sorg¬
sam Treitschke aus einzelne hervorragende Gegenstände seine eigene Arbeit con-
centrirt, wie er zu gesonderter liebevoll eingehender Behandlung bestimmte
Einzelheiten zu einzelnen Essays sich ausgewählt hat! Wir möchten sagen,
in diesen Abhandlungen sind die Bausteine einer Geschichte des 19. Jahrhun¬
derts in den eigentlichen Culturvölkern unserer Zeit enthalten, -- nirgendwo


Augenmerk und seine Stärke. Eine Schranke seiner Begabung mag man das
vielleicht nennen, — aber welche Fülle von Leistungen sind schon in diesen
Schranken enthalten! Welch ein Reichthum köstlicher Gaben ist uns bis¬
her schon in Betrachtungen mannichfaltiger Richtung von ihm dargeboten
worden! —

Treitschke ist ein Meister der essayistischen Form. Früher von uns
Deutschen wenig gekannt, wenig geübt und gering geachtet, hat der historische
Essay in den letzten zwei Jahrzehnten eine große Rolle bei uns zu spielen an¬
gefangen. Demjenigen, der ihn zu handhaben versteht, bietet er große Be¬
quemlichkeiten dar. Ein Autor, der einen gegebenen historischen Stoff zu be¬
handeln sich vorsetzt, darf in dem Essay subjectiver Neigung mehr die Zügel
schießen lassen, als in einem ausführlicheren Buche: ihm ist es gestattet, nur
diejenigen Seiten zu behandeln, die ihn besonders anziehen oder auf die er
ein besonders neues Licht werfen will. Niemals erwartet der Leser von dem
Essay, daß der Gegenstand erschöpft, oder daß er von allen Seiten angefaßt
oder daß alles nothwendige Material herbeigeschafft werde. Alles, was be¬
kannter ist, alles, was früher schon firirt ist, darf im Essay vorausgesetzt wer¬
den : ein kurzer Hinweis, oft nur eine Andeutung oder Anspielung genügt.
Der Historiker, der eine Geschichtsgruppe rein historisch darstellen will, hat
meistens neben dem, was ihm eigen ist, noch allerlei zu referiren, was seine
Vorgänger schon gesagt haben. Bei einem größeren Gegenstande kann auch
das gar nicht ausbleiben, daß er über Strecken Weges zu wandeln hat, die
ihm selbst dürr oder langweilig vorkommen. Der Leser eines historischen
Buches fordert mit Recht, daß das Ganze des Ereignisses ihm vorgelegt
werde. Aller solcher Fesseln ist der Essayist ledig. Was er nicht berühren
will, läßt er liegen, oder macht es mit einem kurzen Seitenworte ab. Nur
die gerade ihn anziehenden Momente wählt er zu eingehenderer Behandlung,
— was Wunder, daß seine Darstellung lebendiger, intensiver, unmittelbarer
ist und leichter den Beifall des Publicums erntet, als ein mit der größten
Kunst und mit der vollendetsten Wissenschaft gearbeitetes Buch! — Wer jetzt
die verschiedenen Arbeiten Treitschke's im Zusammenhange überblickt, wird den
Unterschied sich klar machen können. Er wird sehen, wie die Studien dieses
Schriftstellers das ganze deutsche Leben unseres Jahrhunderts mit allen seinen
Interessen der verschiedensten Art umfaßt und umspannt haben. Und er wird,
eben den Blick auf das Ganze der Arbeit geheftet, gewahr werden, wie sorg¬
sam Treitschke aus einzelne hervorragende Gegenstände seine eigene Arbeit con-
centrirt, wie er zu gesonderter liebevoll eingehender Behandlung bestimmte
Einzelheiten zu einzelnen Essays sich ausgewählt hat! Wir möchten sagen,
in diesen Abhandlungen sind die Bausteine einer Geschichte des 19. Jahrhun¬
derts in den eigentlichen Culturvölkern unserer Zeit enthalten, — nirgendwo


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/56>, abgerufen am 22.07.2024.