Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.er für die Zwecke actueller Politik geschaffen, hat er bei Seite gelassen, -- Ein rein historisches Werk hat Treitschke bis jetzt nicht geschrieben: ihm Das ist ein sehr bezeichnender Umstand. Auf das engste ist der Poli¬ er für die Zwecke actueller Politik geschaffen, hat er bei Seite gelassen, — Ein rein historisches Werk hat Treitschke bis jetzt nicht geschrieben: ihm Das ist ein sehr bezeichnender Umstand. Auf das engste ist der Poli¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0055" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/127451"/> <p xml:id="ID_183" prev="#ID_182"> er für die Zwecke actueller Politik geschaffen, hat er bei Seite gelassen, —<lb/> darunter Manches, was wir doch erhalten zu sehen wünschten, wie die Brand¬<lb/> schrift über die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten (1866), die körnige<lb/> Erörterung über die Todesstrafe und die Polemik gegen den liberalen Brief¬<lb/> schreiber der Weserzeitung (1870), die Ablehnung der Inländischen Zumuthungen<lb/> (1868) und die herrliche Schrift für die Annexion von Elsaß und Lothringen<lb/> an Preußen (September 1870). Man sieht, auf den wissenschaftlichen<lb/> Charakter seines Buches legt er selbst den Nachdruck. Wir bezeichnen ihn als<lb/> einen Versuch historisch-politischer Erörterung.</p><lb/> <p xml:id="ID_184"> Ein rein historisches Werk hat Treitschke bis jetzt nicht geschrieben: ihm<lb/> gestaltet sich die Frucht der historischen Arbeit sofort zu einer politischen Be¬<lb/> lehrung.</p><lb/> <p xml:id="ID_185" next="#ID_186"> Das ist ein sehr bezeichnender Umstand. Auf das engste ist der Poli¬<lb/> tiker und der Historiker in ihm verwachsen: die Subjectivität des Urtheils und<lb/> der Betrachtungsweise ist bei keinem unserer Geschichtschreiber in solchem Um¬<lb/> fange der maßgebende Zug des wissenschaftlichen Charakters. Treitschke selbst<lb/> hat einmal eine Rechtfertigung seiner Art und Weise gegeben, indem er neben<lb/> der untersuchenden und erzählenden Form der Darstellung auch ein Recht der<lb/> didaktischen oder discussiven gewahrt wissen will, jener Darstellungsart, „welche<lb/> dem erforschten Einzelnen seine Stelle in dem Zusammenhange der Geschichte<lb/> anweist." „Sie schildert nicht den Fluß der Ereignisse, sondern betrachtet die<lb/> Zustände, welche aus dem unendlichen Ringen der historischen Kräfte sich<lb/> herausbildeten, sie versucht die Berechtigung dieser Lebensformen der Völker,<lb/> die Nothwendigkeit ihres Gedeihens und ihres Verfalles zu ergründen. Eine<lb/> solche Darstellung läuft Gefahr, von dem Einzelnen ein nur annähernd rich¬<lb/> tiges Bild zu entwerfen, weil sie lediglich den Durchschnitt des Geschehenen<lb/> geben kann. Dafür darf sie zuweilen jenen Vorhang lüften, welcher die un¬<lb/> abänderlichen Naturgesetze des Völkerlebens dem Auge des Forschers verbirgt."<lb/> — Zu dieser letzteren Classe gehören alle Arbeiten Treitschke's. Weder eine<lb/> historische Untersuchung, noch eine historische Erzählung, sei sie nun eine spe-<lb/> cialisirtere oder eine allgemeinere, hat er bis jetzt versucht: sein Talent und<lb/> seine Neigung scheinen ihn fast ausschließlich oder doch vorzugsweise zu der<lb/> didaktischen, die innere Bedeutung des historischen Verlaufes aufweisenden und<lb/> die Nutzanwendung der Geschichte darlegenden Erörterung in Stand zu setzen.<lb/> Nach den bisherigen Proben mag man bezweifeln, ob Treitschke die heute<lb/> unter unseren Historikern ersten Ranges so selten gewordene Kunst erzählen¬<lb/> der Darstellung überhaupt nur für sich ins Auge gefaßt hat. Nur ganz ver¬<lb/> einzelte Referate über thatsächliche Hergange finden sich in seinen Schriften<lb/> vor; und sie sind matt und entbehren des Zaubers, der sonst Treitschke eig¬<lb/> net. Discussion oder Betrachtung, nicht Schilderung der Thatsache ist sein</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0055]
er für die Zwecke actueller Politik geschaffen, hat er bei Seite gelassen, —
darunter Manches, was wir doch erhalten zu sehen wünschten, wie die Brand¬
schrift über die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten (1866), die körnige
Erörterung über die Todesstrafe und die Polemik gegen den liberalen Brief¬
schreiber der Weserzeitung (1870), die Ablehnung der Inländischen Zumuthungen
(1868) und die herrliche Schrift für die Annexion von Elsaß und Lothringen
an Preußen (September 1870). Man sieht, auf den wissenschaftlichen
Charakter seines Buches legt er selbst den Nachdruck. Wir bezeichnen ihn als
einen Versuch historisch-politischer Erörterung.
Ein rein historisches Werk hat Treitschke bis jetzt nicht geschrieben: ihm
gestaltet sich die Frucht der historischen Arbeit sofort zu einer politischen Be¬
lehrung.
Das ist ein sehr bezeichnender Umstand. Auf das engste ist der Poli¬
tiker und der Historiker in ihm verwachsen: die Subjectivität des Urtheils und
der Betrachtungsweise ist bei keinem unserer Geschichtschreiber in solchem Um¬
fange der maßgebende Zug des wissenschaftlichen Charakters. Treitschke selbst
hat einmal eine Rechtfertigung seiner Art und Weise gegeben, indem er neben
der untersuchenden und erzählenden Form der Darstellung auch ein Recht der
didaktischen oder discussiven gewahrt wissen will, jener Darstellungsart, „welche
dem erforschten Einzelnen seine Stelle in dem Zusammenhange der Geschichte
anweist." „Sie schildert nicht den Fluß der Ereignisse, sondern betrachtet die
Zustände, welche aus dem unendlichen Ringen der historischen Kräfte sich
herausbildeten, sie versucht die Berechtigung dieser Lebensformen der Völker,
die Nothwendigkeit ihres Gedeihens und ihres Verfalles zu ergründen. Eine
solche Darstellung läuft Gefahr, von dem Einzelnen ein nur annähernd rich¬
tiges Bild zu entwerfen, weil sie lediglich den Durchschnitt des Geschehenen
geben kann. Dafür darf sie zuweilen jenen Vorhang lüften, welcher die un¬
abänderlichen Naturgesetze des Völkerlebens dem Auge des Forschers verbirgt."
— Zu dieser letzteren Classe gehören alle Arbeiten Treitschke's. Weder eine
historische Untersuchung, noch eine historische Erzählung, sei sie nun eine spe-
cialisirtere oder eine allgemeinere, hat er bis jetzt versucht: sein Talent und
seine Neigung scheinen ihn fast ausschließlich oder doch vorzugsweise zu der
didaktischen, die innere Bedeutung des historischen Verlaufes aufweisenden und
die Nutzanwendung der Geschichte darlegenden Erörterung in Stand zu setzen.
Nach den bisherigen Proben mag man bezweifeln, ob Treitschke die heute
unter unseren Historikern ersten Ranges so selten gewordene Kunst erzählen¬
der Darstellung überhaupt nur für sich ins Auge gefaßt hat. Nur ganz ver¬
einzelte Referate über thatsächliche Hergange finden sich in seinen Schriften
vor; und sie sind matt und entbehren des Zaubers, der sonst Treitschke eig¬
net. Discussion oder Betrachtung, nicht Schilderung der Thatsache ist sein
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