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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Zwolle geboren, studirte in Amsterdam und Leiden, ging dann^einige Jahre
nach Deutschland und wurde nach seiner Rückkehr ins Vaterland 182S zum
Professor der Rechtswissenschaften in Gent ernannt. Von dort kam er wäh¬
rend der belgischen Revolution als Professor nach Leiden. Als solcher gewann
er großen Ruf, besonders durch Verbreitung liberaler staatswissenschaftlicher
Ideen, weshalb man ihn denn auch als den Stifter der spätern liberalen
Partei bezeichnet. In den Jahren 1840 bis 1846 war er Mitglied der zwei¬
ten Kammer und reichte als solches mit noch einigen Gesinnungsgenossen
einen Entwurf zur Revision der Constitution ein. Derselbe fand jedoch nicht
genügenden Beifall, und Thorbecke verlor seinen Sitz in der Kammer. Im
Jahre 1848 trat aber eine Veränderung der Umstände ein, da König Wil¬
helm II. selbst zur Verfassungs-Nevision überging und eine Commission für
diesen, Zweck ernannt wurde. Thorbecke wurde Vorsitzender derselben und
schließlich der Urheber des später durch die vereinigte erste und zweite Kammer
angenommenen Grundgesetzes, welches noch unverändert besteht, und an welches
die Niederländer, als ihr Heiligthum, nicht zu rühren wagen.

Von 1849 bis 1853 war Thorbecke Minister des Innern, wo ihm die
Aufgabe wurde, die aus dem Grundgesetz resultirenden weitern organischen
Gesetze auszuführen. Manches hat er auch in dieser Beziehung gethan, Vieles
ist ihm aber auch nicht gelungen, weil zu jener Zeit conservative Strömungen
zu stark wurden, und dann wieder, eben wie jetzt, die liberale Partei uneinig
war. Seinen Fall im Jahre 18S3 verdankt er der religiösen sogenannten
"Aprilbewegung." Thorbecke hatte, in Folge der im Grundgesetz ausge¬
sprochenen Trennung zwischen Kirche und Staat, dem römischen Stuhl die
Creirung von fünf Bischofssitzen erlaubt. Dagegen wußten die Konservativen
die alten calvinistischen Tendenzen im Volk wieder wachzurufen. Thorbecke
mußte vor diesem Drange weichen, obgleich die Agitation ohne weiteren Er¬
folg blieb. In den Jahren 1862--64, und jetzt wieder, seit dem Anfang des
Jahres 1871 war er Minister, bis er im Dienste seines Vaterlandes gestorben
ist. Die Trauer über diesen Verlust ist groß im ganzen Lande. Der Mann
stand in hoher Achtung bei Freund und Feind, nicht allein wegen seiner
Rechtschaffenheit und seiner Gerechtigkeitsliebe, sondern auch wegen seiner un¬
bestrittenen großen staatsmännischen Talente. Ihm verdanken die Niederlande
die bedeutendsten Schöpfungen auf dem Gebiet des Fortschrittes. Wer wird
nach ihm die Zügel der Regierung wieder so zu führen verstehen, daß, trotz
des Haders der Parteien, das Staatsschiff weiter zu steuern vermag? Denn
nur unter Thorbecke's Regierung war merkbarer Fortschritt zu spüren, und
unter andern Ministerien mußte man häufig an vollkommenen Stillstand
glauben. Keine der Parteien in der Kammer kann augenblicklich eine Mehrheit
bilden, keine ist deshalb regierungsfähig. Was aber dann? Das ist die


Zwolle geboren, studirte in Amsterdam und Leiden, ging dann^einige Jahre
nach Deutschland und wurde nach seiner Rückkehr ins Vaterland 182S zum
Professor der Rechtswissenschaften in Gent ernannt. Von dort kam er wäh¬
rend der belgischen Revolution als Professor nach Leiden. Als solcher gewann
er großen Ruf, besonders durch Verbreitung liberaler staatswissenschaftlicher
Ideen, weshalb man ihn denn auch als den Stifter der spätern liberalen
Partei bezeichnet. In den Jahren 1840 bis 1846 war er Mitglied der zwei¬
ten Kammer und reichte als solches mit noch einigen Gesinnungsgenossen
einen Entwurf zur Revision der Constitution ein. Derselbe fand jedoch nicht
genügenden Beifall, und Thorbecke verlor seinen Sitz in der Kammer. Im
Jahre 1848 trat aber eine Veränderung der Umstände ein, da König Wil¬
helm II. selbst zur Verfassungs-Nevision überging und eine Commission für
diesen, Zweck ernannt wurde. Thorbecke wurde Vorsitzender derselben und
schließlich der Urheber des später durch die vereinigte erste und zweite Kammer
angenommenen Grundgesetzes, welches noch unverändert besteht, und an welches
die Niederländer, als ihr Heiligthum, nicht zu rühren wagen.

Von 1849 bis 1853 war Thorbecke Minister des Innern, wo ihm die
Aufgabe wurde, die aus dem Grundgesetz resultirenden weitern organischen
Gesetze auszuführen. Manches hat er auch in dieser Beziehung gethan, Vieles
ist ihm aber auch nicht gelungen, weil zu jener Zeit conservative Strömungen
zu stark wurden, und dann wieder, eben wie jetzt, die liberale Partei uneinig
war. Seinen Fall im Jahre 18S3 verdankt er der religiösen sogenannten
„Aprilbewegung." Thorbecke hatte, in Folge der im Grundgesetz ausge¬
sprochenen Trennung zwischen Kirche und Staat, dem römischen Stuhl die
Creirung von fünf Bischofssitzen erlaubt. Dagegen wußten die Konservativen
die alten calvinistischen Tendenzen im Volk wieder wachzurufen. Thorbecke
mußte vor diesem Drange weichen, obgleich die Agitation ohne weiteren Er¬
folg blieb. In den Jahren 1862—64, und jetzt wieder, seit dem Anfang des
Jahres 1871 war er Minister, bis er im Dienste seines Vaterlandes gestorben
ist. Die Trauer über diesen Verlust ist groß im ganzen Lande. Der Mann
stand in hoher Achtung bei Freund und Feind, nicht allein wegen seiner
Rechtschaffenheit und seiner Gerechtigkeitsliebe, sondern auch wegen seiner un¬
bestrittenen großen staatsmännischen Talente. Ihm verdanken die Niederlande
die bedeutendsten Schöpfungen auf dem Gebiet des Fortschrittes. Wer wird
nach ihm die Zügel der Regierung wieder so zu führen verstehen, daß, trotz
des Haders der Parteien, das Staatsschiff weiter zu steuern vermag? Denn
nur unter Thorbecke's Regierung war merkbarer Fortschritt zu spüren, und
unter andern Ministerien mußte man häufig an vollkommenen Stillstand
glauben. Keine der Parteien in der Kammer kann augenblicklich eine Mehrheit
bilden, keine ist deshalb regierungsfähig. Was aber dann? Das ist die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/507>, abgerufen am 22.07.2024.