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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Finte noch derber verurtheilt. Nun aber, seit dem dänischen Kriege, insbe¬
sondere seit dem großen Erfolge der preußischen Diplomatie auf den Londoner
Conferenzen, wie er doch wohl von Leuten, die sehen wollten, sofort gesehen
werden mußte, war man gezwungen, anders über die auswärtige Politik
Bismarcks zu denken. Wir können bezeugen, daß im Spätsommer 1864 in
manchen Bekennern des liberalen Programmes, in manchen Anhängern der
großen Oppositionsphalanx es zu dämmern anfing. Und nach und nach, von
Monat zu Monat mehr rang sich die Ueberzeugung durch, daß die vorzugs¬
weise nationalen Elemente der liberalen Parteien das Interesse Preußens,
den Staat Preußen, die deutsche Politik höher halten müßten als ihre
eigene liberale Partei, die Dogmen ihres liberalen Katechismus. Natürlich
von einer unbedingten oder rückhaltlosen Unterstützung Bismarcks, wie wir
alle seit 1866 sie für eine nationale Pflicht erachten, konnte noch nicht die
Rede sein; -- dennoch erschien es bald Vielen als eine unabweisliche Forde¬
rung, daß wenigstens in denjenigen Punkten, in welchen Bismarck das Lebens¬
interesse des preußischen Staates zu befördern sich anschickte und die deutsche
Frage anzufassen Miene machte, die Gesinnungsgenossen der alten Kaiserpartei
ihre Unterstützung ihm nicht versagen und sich nicht in einer Opposition <Mnä
nomo festreiten dürften.

Wir meinen, wer sich aus den Kammerverhandlungen der Jahre 1864
und 1866, aus den Ergüssen der großen Tagespresse und der kleinen Flug¬
schriftenliteratur allein ein Bild der geistigen Strömungen des politischen
Lebens machen wollte, könnte immer noch in die Gefahr gerathen, einseitig
zu werden: neben allen jenen Aeußerungen gibt es noch Pulsschläge des Zeit¬
geistes, die nicht so offen sich an den Tag drängen, die oft gerade bei den
urtheilsfähigsten Leuten gleichsam im Verborgenen fern vom öffentlichen Markte
fortleben und dann bei irgend einem Anlasse erst an der Oberfläche des
öffentlichen Lebens sich zeigen. So erging es damals auch der großen liberalen
Strömung. An der einen Thatsache, daß das reactionäre preußische Mini¬
sterium eine echte preußisch-deutsche Politik zu treiben sich erkühnte, daß es
Erfolge auf Erfolge errang auch ohne, auch gegen die sich allmächtig dünkende
liberale öffentliche Meinung, an dieser einen sehr brutalen Thatsache, die
nicht wegzudeuten oder wegzuspotten war, zerschellten manche Illusionen. Als
ein hohes Glück für unsere deutsche Zukunft sehen wir es an, daß Besinnung
und Ernüchterung bei einem großen Theile der Opposition einkehrte, daß nach
und nach an den Thatsachen sich der nationalgesinnte Theil der Liberalen
auch zurechtfand.

Wer heute aufmerksam die betreffenden Jahrgänge unserer großen litera¬
risch-politischen Journale durchmustert, stoßt auf manches Wort, auf manchen
kleinen Artikel voll Andeutungen und Vorboten der sich vollziehenden Um-


Finte noch derber verurtheilt. Nun aber, seit dem dänischen Kriege, insbe¬
sondere seit dem großen Erfolge der preußischen Diplomatie auf den Londoner
Conferenzen, wie er doch wohl von Leuten, die sehen wollten, sofort gesehen
werden mußte, war man gezwungen, anders über die auswärtige Politik
Bismarcks zu denken. Wir können bezeugen, daß im Spätsommer 1864 in
manchen Bekennern des liberalen Programmes, in manchen Anhängern der
großen Oppositionsphalanx es zu dämmern anfing. Und nach und nach, von
Monat zu Monat mehr rang sich die Ueberzeugung durch, daß die vorzugs¬
weise nationalen Elemente der liberalen Parteien das Interesse Preußens,
den Staat Preußen, die deutsche Politik höher halten müßten als ihre
eigene liberale Partei, die Dogmen ihres liberalen Katechismus. Natürlich
von einer unbedingten oder rückhaltlosen Unterstützung Bismarcks, wie wir
alle seit 1866 sie für eine nationale Pflicht erachten, konnte noch nicht die
Rede sein; — dennoch erschien es bald Vielen als eine unabweisliche Forde¬
rung, daß wenigstens in denjenigen Punkten, in welchen Bismarck das Lebens¬
interesse des preußischen Staates zu befördern sich anschickte und die deutsche
Frage anzufassen Miene machte, die Gesinnungsgenossen der alten Kaiserpartei
ihre Unterstützung ihm nicht versagen und sich nicht in einer Opposition <Mnä
nomo festreiten dürften.

Wir meinen, wer sich aus den Kammerverhandlungen der Jahre 1864
und 1866, aus den Ergüssen der großen Tagespresse und der kleinen Flug¬
schriftenliteratur allein ein Bild der geistigen Strömungen des politischen
Lebens machen wollte, könnte immer noch in die Gefahr gerathen, einseitig
zu werden: neben allen jenen Aeußerungen gibt es noch Pulsschläge des Zeit¬
geistes, die nicht so offen sich an den Tag drängen, die oft gerade bei den
urtheilsfähigsten Leuten gleichsam im Verborgenen fern vom öffentlichen Markte
fortleben und dann bei irgend einem Anlasse erst an der Oberfläche des
öffentlichen Lebens sich zeigen. So erging es damals auch der großen liberalen
Strömung. An der einen Thatsache, daß das reactionäre preußische Mini¬
sterium eine echte preußisch-deutsche Politik zu treiben sich erkühnte, daß es
Erfolge auf Erfolge errang auch ohne, auch gegen die sich allmächtig dünkende
liberale öffentliche Meinung, an dieser einen sehr brutalen Thatsache, die
nicht wegzudeuten oder wegzuspotten war, zerschellten manche Illusionen. Als
ein hohes Glück für unsere deutsche Zukunft sehen wir es an, daß Besinnung
und Ernüchterung bei einem großen Theile der Opposition einkehrte, daß nach
und nach an den Thatsachen sich der nationalgesinnte Theil der Liberalen
auch zurechtfand.

Wer heute aufmerksam die betreffenden Jahrgänge unserer großen litera¬
risch-politischen Journale durchmustert, stoßt auf manches Wort, auf manchen
kleinen Artikel voll Andeutungen und Vorboten der sich vollziehenden Um-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/50>, abgerufen am 22.07.2024.