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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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grimmen Ungethüm. Wie würde die Gewißheit dieser Katastrophe auf unsern
Gemüthszustand einwirken?

Die natürlichste Vermuthung scheint die, daß dann schon lange bevor
der Verband der Erde sich löste, der sittliche Verband der Menschen, der durch
Gesetz und Recht besteht, auseinander weichen, daß die bürgerliche Gesellschaft
in einen Zustand gerathen würde, etwa dem ähnlich, der auf einem verlorenen
Schiffe, dessen Mannschaft und Passagiere sich nicht in Booten retten können,
oder in einer von der Pest demoralisirten Stadt herrscht. Daneben würden
religiös gesinnte Gemüther und eine Anzahl anderer, die bisher den lieben
Gott einen frommen Mann sein ließen, nach den Ehren und Gütern der
Welt trachteten und den Freuden derselben nachjagten, sich durch Gebet und
Kasteiung auf ein seliges Ende vorzubereiten bestrebt sein.

Solche Erscheinungen würden ohne Zweifel vorkommen, aber aller Wahr¬
scheinlichkeit nach nur partiell. Die Mehrzahl würde ihre alten Bahnen weiter
wandeln, wenn auch in etwas unbehaglicher Stimmung. In Paris könnte
die Commune noch einmal triumphiren. In Deutschland würden wir unter¬
gehen, wie die Mannschaft des "Birkenhead" und das Regiment Rothröcke,
das an Bord des Schiffes war und in Reihe und Glied, Gewehr beim Fuß
versank, als der Ocean es zu begraben kam. Anständig gelebt und anständig
gestorben, würde es heißen, und wer dabei nicht mitthun wollte, der würde
müssen.

Ehe es aber so weit käme, würde man sich an die schlimme Aussicht bis
zu einem gewissen Grade gewöhnen. -- gewöhnt sich der Steiermärker doch
ans Arsenikessen. Viele würden die vis inertiae fühlen, die Aufregungen ab¬
stumpft. Viele würden sich fragen: warum für die kurze Spanne Zeit, die
dem armen Sünder noch gegönnt ist, erst ein neues Leben anfangen und die
alten Beschäftigungen und Vergnügungen an den Nagel hängen, die mir zur
zweiten Natur geworden sind? Gut, ich werde nach dem zwölften August
1872 nichts mehr brauchen. Aber ist das denn eigentlich ein Grund, vor
dieser Zeit nicht zu arbeiten, zu denken, zu speculiren oder gar mir mein regel¬
mäßiges Frühstück, Mittagsessen und Abendbrot zu versagen und meinen
Wein ungetrunken zu lassen, damit der verwünschte Komet darin schwelgt?
Gewiß' nicht. Also genehmigen wir uns das wie bisher.

Es ist die Vermuthung erlaubt, daß in den letzten Wochen vor der
Katastrophe an den Börsen Hauffe und Baisse sich den Rang abzulaufen
streben würden wie vorher, und an den Ultimo gedacht werden würde, wie
bisher, obschon der Zwölfte eigentlich der Ultimo aller Ultimos wäre.

Es ist ferner wahrscheinlich, daß Theefracht aus Hongkong, Talgfracht
aus Melbourne und Tabakfrachten aus Baltimore expedirt würden, obschon
unzweifelhaft feststände, daß die Meere längst ausgetrocknet wären, bevor die


grimmen Ungethüm. Wie würde die Gewißheit dieser Katastrophe auf unsern
Gemüthszustand einwirken?

Die natürlichste Vermuthung scheint die, daß dann schon lange bevor
der Verband der Erde sich löste, der sittliche Verband der Menschen, der durch
Gesetz und Recht besteht, auseinander weichen, daß die bürgerliche Gesellschaft
in einen Zustand gerathen würde, etwa dem ähnlich, der auf einem verlorenen
Schiffe, dessen Mannschaft und Passagiere sich nicht in Booten retten können,
oder in einer von der Pest demoralisirten Stadt herrscht. Daneben würden
religiös gesinnte Gemüther und eine Anzahl anderer, die bisher den lieben
Gott einen frommen Mann sein ließen, nach den Ehren und Gütern der
Welt trachteten und den Freuden derselben nachjagten, sich durch Gebet und
Kasteiung auf ein seliges Ende vorzubereiten bestrebt sein.

Solche Erscheinungen würden ohne Zweifel vorkommen, aber aller Wahr¬
scheinlichkeit nach nur partiell. Die Mehrzahl würde ihre alten Bahnen weiter
wandeln, wenn auch in etwas unbehaglicher Stimmung. In Paris könnte
die Commune noch einmal triumphiren. In Deutschland würden wir unter¬
gehen, wie die Mannschaft des „Birkenhead" und das Regiment Rothröcke,
das an Bord des Schiffes war und in Reihe und Glied, Gewehr beim Fuß
versank, als der Ocean es zu begraben kam. Anständig gelebt und anständig
gestorben, würde es heißen, und wer dabei nicht mitthun wollte, der würde
müssen.

Ehe es aber so weit käme, würde man sich an die schlimme Aussicht bis
zu einem gewissen Grade gewöhnen. — gewöhnt sich der Steiermärker doch
ans Arsenikessen. Viele würden die vis inertiae fühlen, die Aufregungen ab¬
stumpft. Viele würden sich fragen: warum für die kurze Spanne Zeit, die
dem armen Sünder noch gegönnt ist, erst ein neues Leben anfangen und die
alten Beschäftigungen und Vergnügungen an den Nagel hängen, die mir zur
zweiten Natur geworden sind? Gut, ich werde nach dem zwölften August
1872 nichts mehr brauchen. Aber ist das denn eigentlich ein Grund, vor
dieser Zeit nicht zu arbeiten, zu denken, zu speculiren oder gar mir mein regel¬
mäßiges Frühstück, Mittagsessen und Abendbrot zu versagen und meinen
Wein ungetrunken zu lassen, damit der verwünschte Komet darin schwelgt?
Gewiß' nicht. Also genehmigen wir uns das wie bisher.

Es ist die Vermuthung erlaubt, daß in den letzten Wochen vor der
Katastrophe an den Börsen Hauffe und Baisse sich den Rang abzulaufen
streben würden wie vorher, und an den Ultimo gedacht werden würde, wie
bisher, obschon der Zwölfte eigentlich der Ultimo aller Ultimos wäre.

Es ist ferner wahrscheinlich, daß Theefracht aus Hongkong, Talgfracht
aus Melbourne und Tabakfrachten aus Baltimore expedirt würden, obschon
unzweifelhaft feststände, daß die Meere längst ausgetrocknet wären, bevor die


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[0494] grimmen Ungethüm. Wie würde die Gewißheit dieser Katastrophe auf unsern Gemüthszustand einwirken? Die natürlichste Vermuthung scheint die, daß dann schon lange bevor der Verband der Erde sich löste, der sittliche Verband der Menschen, der durch Gesetz und Recht besteht, auseinander weichen, daß die bürgerliche Gesellschaft in einen Zustand gerathen würde, etwa dem ähnlich, der auf einem verlorenen Schiffe, dessen Mannschaft und Passagiere sich nicht in Booten retten können, oder in einer von der Pest demoralisirten Stadt herrscht. Daneben würden religiös gesinnte Gemüther und eine Anzahl anderer, die bisher den lieben Gott einen frommen Mann sein ließen, nach den Ehren und Gütern der Welt trachteten und den Freuden derselben nachjagten, sich durch Gebet und Kasteiung auf ein seliges Ende vorzubereiten bestrebt sein. Solche Erscheinungen würden ohne Zweifel vorkommen, aber aller Wahr¬ scheinlichkeit nach nur partiell. Die Mehrzahl würde ihre alten Bahnen weiter wandeln, wenn auch in etwas unbehaglicher Stimmung. In Paris könnte die Commune noch einmal triumphiren. In Deutschland würden wir unter¬ gehen, wie die Mannschaft des „Birkenhead" und das Regiment Rothröcke, das an Bord des Schiffes war und in Reihe und Glied, Gewehr beim Fuß versank, als der Ocean es zu begraben kam. Anständig gelebt und anständig gestorben, würde es heißen, und wer dabei nicht mitthun wollte, der würde müssen. Ehe es aber so weit käme, würde man sich an die schlimme Aussicht bis zu einem gewissen Grade gewöhnen. — gewöhnt sich der Steiermärker doch ans Arsenikessen. Viele würden die vis inertiae fühlen, die Aufregungen ab¬ stumpft. Viele würden sich fragen: warum für die kurze Spanne Zeit, die dem armen Sünder noch gegönnt ist, erst ein neues Leben anfangen und die alten Beschäftigungen und Vergnügungen an den Nagel hängen, die mir zur zweiten Natur geworden sind? Gut, ich werde nach dem zwölften August 1872 nichts mehr brauchen. Aber ist das denn eigentlich ein Grund, vor dieser Zeit nicht zu arbeiten, zu denken, zu speculiren oder gar mir mein regel¬ mäßiges Frühstück, Mittagsessen und Abendbrot zu versagen und meinen Wein ungetrunken zu lassen, damit der verwünschte Komet darin schwelgt? Gewiß' nicht. Also genehmigen wir uns das wie bisher. Es ist die Vermuthung erlaubt, daß in den letzten Wochen vor der Katastrophe an den Börsen Hauffe und Baisse sich den Rang abzulaufen streben würden wie vorher, und an den Ultimo gedacht werden würde, wie bisher, obschon der Zwölfte eigentlich der Ultimo aller Ultimos wäre. Es ist ferner wahrscheinlich, daß Theefracht aus Hongkong, Talgfracht aus Melbourne und Tabakfrachten aus Baltimore expedirt würden, obschon unzweifelhaft feststände, daß die Meere längst ausgetrocknet wären, bevor die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/494>, abgerufen am 22.07.2024.