Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

den Anschauungen sieht Gneist in dem Parlament nicht das Wesen des
englischen Staates. Das Parlament ist die Zusammenfassung der beiden
eigenthümlichen Organismen, der Centralverwaltung und der Local- oder
Selbstverwaltung, in zwei zusammenwirkenden Körperschaften. Seine Be¬
deutung liegt nur darin; und wenn es auch eine andere Bedeutung nach und
nach erlangt hat. die ihm nicht aus seiner wahren Grundlage erwachsen, so
ist dies eine Verschiebung und Erkrankung des englischen Staatsbaues, die
sich in immer gefährlicheren Folgen zeigt. Bei dieser Ansicht wird es erklärlich,
wie die beiden ersten Theile von Greises englischem Staatsrecht eigentlich den
Aufbau des Parlaments mit enthalten und wie die besondere Geschichte des
Parlaments einestheils nur noch die Technik geben kann, anderntheils die
Entartung.

Als von diesem Werk nur erst der erste Theil in erster Auflage erschie¬
nen, war der Eindruck, obwohl durch die Zerstörung der herrschenden Vor¬
stellungen vom englischen und vom modernen Staat, überhaupt im höchsten
Grade befremdend, doch ein so starkes- Zeugniß für die Gelehrsamkeit und den
Scharfsinn des Verfassers, daß demselben noch unter dem Ministerium Rau¬
mer im Frühjahr 1888 das Gremium der juristischen Facultät erschlossen und
die ordentliche Professur verliehen wurde. Gans hatte ihn promovirt, Stahl
führte ihn nach 20 Jahren in die Facultät.

Im November desselben Jahres wurde die Regentschaft in Preußen ein¬
gesetzt, und von einem liberalen Ministerium neue Landtagswahlen ausge¬
schrieben. Die Demokraten von 1848 betheiligten sich nach fast zehnjähriger
Enthaltung wieder an den Wahlen, aber verzichteten auf eigene Kandidaten.
Tons schien es Zeit, dem in der blinden Aufregung jener Tage ungerecht
Stigmatisirten den Bann abzunehmen. Gneist wurde in Stettin zum Candi-
daten für das Abgeordnetenhaus aufgestellt und gewählt. Auch in Berlin
war ihm eine Candidatur angeboten, die er ablehnte. Dafür gab er den
Wunsch zu erkennen, wieder in der Gemeinde-Verwaltung zu wirken, und er¬
hielt alsbald das Stadtverordnetenamt wieder, das er seitdem ununterbrochen
bekleidet.

In dem Abgeordnetenhaus von 1858 trat Gneist nur einmal mit einer
bemerkenswerthen Rede auf, als es sich um die Weigerung der Geistlichen
handelte, die landrechtlich zulässigen Ehen Geschiedener einzusegnen. Die
öffentliche Stimmung verlangte damals wie heute zur Lösung dieser Schwierig¬
keit die obligatorische Civilehe. Gneist hob sehr stark hervor, einmal, daß die
Ehe mehr ist als Civilverhältniß, und zweitens, daß die Geistlichen als
Staatsdiener verpflichtet sind, die Ehen einzusegnen; die das Staatsgesetz ge¬
nehmigt. Er fand damals wenig Anklang, er erregte vielmehr Verwunderung,
ja Befremden, wie noch oftmals in der Folge. Heute aber, 14 Jahre später,


den Anschauungen sieht Gneist in dem Parlament nicht das Wesen des
englischen Staates. Das Parlament ist die Zusammenfassung der beiden
eigenthümlichen Organismen, der Centralverwaltung und der Local- oder
Selbstverwaltung, in zwei zusammenwirkenden Körperschaften. Seine Be¬
deutung liegt nur darin; und wenn es auch eine andere Bedeutung nach und
nach erlangt hat. die ihm nicht aus seiner wahren Grundlage erwachsen, so
ist dies eine Verschiebung und Erkrankung des englischen Staatsbaues, die
sich in immer gefährlicheren Folgen zeigt. Bei dieser Ansicht wird es erklärlich,
wie die beiden ersten Theile von Greises englischem Staatsrecht eigentlich den
Aufbau des Parlaments mit enthalten und wie die besondere Geschichte des
Parlaments einestheils nur noch die Technik geben kann, anderntheils die
Entartung.

Als von diesem Werk nur erst der erste Theil in erster Auflage erschie¬
nen, war der Eindruck, obwohl durch die Zerstörung der herrschenden Vor¬
stellungen vom englischen und vom modernen Staat, überhaupt im höchsten
Grade befremdend, doch ein so starkes- Zeugniß für die Gelehrsamkeit und den
Scharfsinn des Verfassers, daß demselben noch unter dem Ministerium Rau¬
mer im Frühjahr 1888 das Gremium der juristischen Facultät erschlossen und
die ordentliche Professur verliehen wurde. Gans hatte ihn promovirt, Stahl
führte ihn nach 20 Jahren in die Facultät.

Im November desselben Jahres wurde die Regentschaft in Preußen ein¬
gesetzt, und von einem liberalen Ministerium neue Landtagswahlen ausge¬
schrieben. Die Demokraten von 1848 betheiligten sich nach fast zehnjähriger
Enthaltung wieder an den Wahlen, aber verzichteten auf eigene Kandidaten.
Tons schien es Zeit, dem in der blinden Aufregung jener Tage ungerecht
Stigmatisirten den Bann abzunehmen. Gneist wurde in Stettin zum Candi-
daten für das Abgeordnetenhaus aufgestellt und gewählt. Auch in Berlin
war ihm eine Candidatur angeboten, die er ablehnte. Dafür gab er den
Wunsch zu erkennen, wieder in der Gemeinde-Verwaltung zu wirken, und er¬
hielt alsbald das Stadtverordnetenamt wieder, das er seitdem ununterbrochen
bekleidet.

In dem Abgeordnetenhaus von 1858 trat Gneist nur einmal mit einer
bemerkenswerthen Rede auf, als es sich um die Weigerung der Geistlichen
handelte, die landrechtlich zulässigen Ehen Geschiedener einzusegnen. Die
öffentliche Stimmung verlangte damals wie heute zur Lösung dieser Schwierig¬
keit die obligatorische Civilehe. Gneist hob sehr stark hervor, einmal, daß die
Ehe mehr ist als Civilverhältniß, und zweitens, daß die Geistlichen als
Staatsdiener verpflichtet sind, die Ehen einzusegnen; die das Staatsgesetz ge¬
nehmigt. Er fand damals wenig Anklang, er erregte vielmehr Verwunderung,
ja Befremden, wie noch oftmals in der Folge. Heute aber, 14 Jahre später,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0457" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/127865"/>
          <p xml:id="ID_1477" prev="#ID_1476"> den Anschauungen sieht Gneist in dem Parlament nicht das Wesen des<lb/>
englischen Staates. Das Parlament ist die Zusammenfassung der beiden<lb/>
eigenthümlichen Organismen, der Centralverwaltung und der Local- oder<lb/>
Selbstverwaltung, in zwei zusammenwirkenden Körperschaften. Seine Be¬<lb/>
deutung liegt nur darin; und wenn es auch eine andere Bedeutung nach und<lb/>
nach erlangt hat. die ihm nicht aus seiner wahren Grundlage erwachsen, so<lb/>
ist dies eine Verschiebung und Erkrankung des englischen Staatsbaues, die<lb/>
sich in immer gefährlicheren Folgen zeigt. Bei dieser Ansicht wird es erklärlich,<lb/>
wie die beiden ersten Theile von Greises englischem Staatsrecht eigentlich den<lb/>
Aufbau des Parlaments mit enthalten und wie die besondere Geschichte des<lb/>
Parlaments einestheils nur noch die Technik geben kann, anderntheils die<lb/>
Entartung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1478"> Als von diesem Werk nur erst der erste Theil in erster Auflage erschie¬<lb/>
nen, war der Eindruck, obwohl durch die Zerstörung der herrschenden Vor¬<lb/>
stellungen vom englischen und vom modernen Staat, überhaupt im höchsten<lb/>
Grade befremdend, doch ein so starkes- Zeugniß für die Gelehrsamkeit und den<lb/>
Scharfsinn des Verfassers, daß demselben noch unter dem Ministerium Rau¬<lb/>
mer im Frühjahr 1888 das Gremium der juristischen Facultät erschlossen und<lb/>
die ordentliche Professur verliehen wurde. Gans hatte ihn promovirt, Stahl<lb/>
führte ihn nach 20 Jahren in die Facultät.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1479"> Im November desselben Jahres wurde die Regentschaft in Preußen ein¬<lb/>
gesetzt, und von einem liberalen Ministerium neue Landtagswahlen ausge¬<lb/>
schrieben. Die Demokraten von 1848 betheiligten sich nach fast zehnjähriger<lb/>
Enthaltung wieder an den Wahlen, aber verzichteten auf eigene Kandidaten.<lb/>
Tons schien es Zeit, dem in der blinden Aufregung jener Tage ungerecht<lb/>
Stigmatisirten den Bann abzunehmen. Gneist wurde in Stettin zum Candi-<lb/>
daten für das Abgeordnetenhaus aufgestellt und gewählt. Auch in Berlin<lb/>
war ihm eine Candidatur angeboten, die er ablehnte. Dafür gab er den<lb/>
Wunsch zu erkennen, wieder in der Gemeinde-Verwaltung zu wirken, und er¬<lb/>
hielt alsbald das Stadtverordnetenamt wieder, das er seitdem ununterbrochen<lb/>
bekleidet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1480" next="#ID_1481"> In dem Abgeordnetenhaus von 1858 trat Gneist nur einmal mit einer<lb/>
bemerkenswerthen Rede auf, als es sich um die Weigerung der Geistlichen<lb/>
handelte, die landrechtlich zulässigen Ehen Geschiedener einzusegnen. Die<lb/>
öffentliche Stimmung verlangte damals wie heute zur Lösung dieser Schwierig¬<lb/>
keit die obligatorische Civilehe. Gneist hob sehr stark hervor, einmal, daß die<lb/>
Ehe mehr ist als Civilverhältniß, und zweitens, daß die Geistlichen als<lb/>
Staatsdiener verpflichtet sind, die Ehen einzusegnen; die das Staatsgesetz ge¬<lb/>
nehmigt. Er fand damals wenig Anklang, er erregte vielmehr Verwunderung,<lb/>
ja Befremden, wie noch oftmals in der Folge. Heute aber, 14 Jahre später,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0457] den Anschauungen sieht Gneist in dem Parlament nicht das Wesen des englischen Staates. Das Parlament ist die Zusammenfassung der beiden eigenthümlichen Organismen, der Centralverwaltung und der Local- oder Selbstverwaltung, in zwei zusammenwirkenden Körperschaften. Seine Be¬ deutung liegt nur darin; und wenn es auch eine andere Bedeutung nach und nach erlangt hat. die ihm nicht aus seiner wahren Grundlage erwachsen, so ist dies eine Verschiebung und Erkrankung des englischen Staatsbaues, die sich in immer gefährlicheren Folgen zeigt. Bei dieser Ansicht wird es erklärlich, wie die beiden ersten Theile von Greises englischem Staatsrecht eigentlich den Aufbau des Parlaments mit enthalten und wie die besondere Geschichte des Parlaments einestheils nur noch die Technik geben kann, anderntheils die Entartung. Als von diesem Werk nur erst der erste Theil in erster Auflage erschie¬ nen, war der Eindruck, obwohl durch die Zerstörung der herrschenden Vor¬ stellungen vom englischen und vom modernen Staat, überhaupt im höchsten Grade befremdend, doch ein so starkes- Zeugniß für die Gelehrsamkeit und den Scharfsinn des Verfassers, daß demselben noch unter dem Ministerium Rau¬ mer im Frühjahr 1888 das Gremium der juristischen Facultät erschlossen und die ordentliche Professur verliehen wurde. Gans hatte ihn promovirt, Stahl führte ihn nach 20 Jahren in die Facultät. Im November desselben Jahres wurde die Regentschaft in Preußen ein¬ gesetzt, und von einem liberalen Ministerium neue Landtagswahlen ausge¬ schrieben. Die Demokraten von 1848 betheiligten sich nach fast zehnjähriger Enthaltung wieder an den Wahlen, aber verzichteten auf eigene Kandidaten. Tons schien es Zeit, dem in der blinden Aufregung jener Tage ungerecht Stigmatisirten den Bann abzunehmen. Gneist wurde in Stettin zum Candi- daten für das Abgeordnetenhaus aufgestellt und gewählt. Auch in Berlin war ihm eine Candidatur angeboten, die er ablehnte. Dafür gab er den Wunsch zu erkennen, wieder in der Gemeinde-Verwaltung zu wirken, und er¬ hielt alsbald das Stadtverordnetenamt wieder, das er seitdem ununterbrochen bekleidet. In dem Abgeordnetenhaus von 1858 trat Gneist nur einmal mit einer bemerkenswerthen Rede auf, als es sich um die Weigerung der Geistlichen handelte, die landrechtlich zulässigen Ehen Geschiedener einzusegnen. Die öffentliche Stimmung verlangte damals wie heute zur Lösung dieser Schwierig¬ keit die obligatorische Civilehe. Gneist hob sehr stark hervor, einmal, daß die Ehe mehr ist als Civilverhältniß, und zweitens, daß die Geistlichen als Staatsdiener verpflichtet sind, die Ehen einzusegnen; die das Staatsgesetz ge¬ nehmigt. Er fand damals wenig Anklang, er erregte vielmehr Verwunderung, ja Befremden, wie noch oftmals in der Folge. Heute aber, 14 Jahre später,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/457
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/457>, abgerufen am 22.07.2024.