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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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und Liebe, daß er, wieder aufgeheitert, bemerkt, er habe fast Lust, sein Uebel
fortdauern zu sehen, damit er immer der Gegenstand von solchen Beweisen
der Zuneigung bleibe. Doch ist das wohl mehr Höflichkeit von seiner Seite;
denn die Cur, welche der berühmte Chirurg ihm verordnet, besteht vorzüglich
in wiederholten Dosen der Arzenei, die man in England die neunschwänzige
Katze nennt. Natürlich aber ist das nichts weniger als eine Strafe. Es
sind einfach chirurgische Operationen, und solche involviren in Erewhon so
wenig wie bei uns eine Herabwürdigung oder eine Einbuße in der öffentlichen
Meinung.

Verschiedene andere komische Folgen dieser Verkehrung der Anschauungen
begegnen unserm Reisenden im Verlauf seines Aufenthaltes bei den Erewho-
niten. Einmal verletzt er einer jungen Dame gegenüber auf das Aergste die
Regeln des Anstandet indem er ihr erzählt, daß er sich schwer erkältet habe,
und sie willigt erst ein, sich über diese Beleidigung nicht bei ihrem Papa zu
beklagen, als der Tactlose ihr betheuert, daß ihm der Sittencodex des Landes
vollkommen fremd sei. Ein ander Mal versucht ein Fräulein Mahaina, die
offenbar an Magenkatarrh leidet, ihre Bekannten glauben zu machen, sie habe
zu tief in die Flasche gesehen. Unfreundliche Leute aber sind hartherzig ge¬
nug, zu sagen, daß dies Täuschung, verlogne Ausrede sei und daß sie sich
damit nur der billigen und gerechten Ahndung entziehen wolle, welche ihr
verdorbener Magen zu gewärtigen habe.

Körperliche Gebrechen werden von den Erewhoniten in dem Maße als
weniger strafbar betrachtet, als sie ihren Grund in Dingen haben, die mit
der Körperverfassung nicht zusammenhängen. Ruinirt z. B. Jemand seine
Gesundheit durch zu viel Genuß von geistigen Getränken, so wird die körper¬
liche Krankheit als Theil oder Symptom der geistigen angesehen, die sie her¬
vorrief, und in Folge dessen nicht hoch angerechnet, wogegen solche Krank¬
heiten wie Fieber, Lungensucht, Nierenleiden, für die unserer Auffassung nach
Niemand etwas kann, mit der äußersten Strenge behandelt werden und dem
Patienten schwere Geldstrafen und langjährige Einsparung zuziehen.

Früher, wo für keine Arzeneimittel gesorgt war, waren die auf Krankheit
gesetzten Strafen geradezu barbarisch. Es kam damals vor, daß man Leute,
die sich einen Schnupfen zugezogen hatten, zu lebenslänglicher Einsperrung
verurtheilte, worüber wir uns indeß nicht allzusehr wundern wollen, da es
bei uns um dieselbe Zeit vorkam, daß Leute, die über fünf Thaler Werths
gestohlen hatten, dem Stricke des Henkers überantwortet wurden. Ein großer
Gefängnißreformator war indeß aufgestanden, welcher das Publicum über¬
zeugte, daß Verbrechen wie Kopfschmerz, Herzleiden, Gicht u. A. sich heilen
ließen. Er setzte glücklich eine theilweise Reform durch, kraft deren man alle
Krankheiten in drei Classen theilte, insofern sie den Kopf, den Mittelkörper


und Liebe, daß er, wieder aufgeheitert, bemerkt, er habe fast Lust, sein Uebel
fortdauern zu sehen, damit er immer der Gegenstand von solchen Beweisen
der Zuneigung bleibe. Doch ist das wohl mehr Höflichkeit von seiner Seite;
denn die Cur, welche der berühmte Chirurg ihm verordnet, besteht vorzüglich
in wiederholten Dosen der Arzenei, die man in England die neunschwänzige
Katze nennt. Natürlich aber ist das nichts weniger als eine Strafe. Es
sind einfach chirurgische Operationen, und solche involviren in Erewhon so
wenig wie bei uns eine Herabwürdigung oder eine Einbuße in der öffentlichen
Meinung.

Verschiedene andere komische Folgen dieser Verkehrung der Anschauungen
begegnen unserm Reisenden im Verlauf seines Aufenthaltes bei den Erewho-
niten. Einmal verletzt er einer jungen Dame gegenüber auf das Aergste die
Regeln des Anstandet indem er ihr erzählt, daß er sich schwer erkältet habe,
und sie willigt erst ein, sich über diese Beleidigung nicht bei ihrem Papa zu
beklagen, als der Tactlose ihr betheuert, daß ihm der Sittencodex des Landes
vollkommen fremd sei. Ein ander Mal versucht ein Fräulein Mahaina, die
offenbar an Magenkatarrh leidet, ihre Bekannten glauben zu machen, sie habe
zu tief in die Flasche gesehen. Unfreundliche Leute aber sind hartherzig ge¬
nug, zu sagen, daß dies Täuschung, verlogne Ausrede sei und daß sie sich
damit nur der billigen und gerechten Ahndung entziehen wolle, welche ihr
verdorbener Magen zu gewärtigen habe.

Körperliche Gebrechen werden von den Erewhoniten in dem Maße als
weniger strafbar betrachtet, als sie ihren Grund in Dingen haben, die mit
der Körperverfassung nicht zusammenhängen. Ruinirt z. B. Jemand seine
Gesundheit durch zu viel Genuß von geistigen Getränken, so wird die körper¬
liche Krankheit als Theil oder Symptom der geistigen angesehen, die sie her¬
vorrief, und in Folge dessen nicht hoch angerechnet, wogegen solche Krank¬
heiten wie Fieber, Lungensucht, Nierenleiden, für die unserer Auffassung nach
Niemand etwas kann, mit der äußersten Strenge behandelt werden und dem
Patienten schwere Geldstrafen und langjährige Einsparung zuziehen.

Früher, wo für keine Arzeneimittel gesorgt war, waren die auf Krankheit
gesetzten Strafen geradezu barbarisch. Es kam damals vor, daß man Leute,
die sich einen Schnupfen zugezogen hatten, zu lebenslänglicher Einsperrung
verurtheilte, worüber wir uns indeß nicht allzusehr wundern wollen, da es
bei uns um dieselbe Zeit vorkam, daß Leute, die über fünf Thaler Werths
gestohlen hatten, dem Stricke des Henkers überantwortet wurden. Ein großer
Gefängnißreformator war indeß aufgestanden, welcher das Publicum über¬
zeugte, daß Verbrechen wie Kopfschmerz, Herzleiden, Gicht u. A. sich heilen
ließen. Er setzte glücklich eine theilweise Reform durch, kraft deren man alle
Krankheiten in drei Classen theilte, insofern sie den Kopf, den Mittelkörper


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[0384] und Liebe, daß er, wieder aufgeheitert, bemerkt, er habe fast Lust, sein Uebel fortdauern zu sehen, damit er immer der Gegenstand von solchen Beweisen der Zuneigung bleibe. Doch ist das wohl mehr Höflichkeit von seiner Seite; denn die Cur, welche der berühmte Chirurg ihm verordnet, besteht vorzüglich in wiederholten Dosen der Arzenei, die man in England die neunschwänzige Katze nennt. Natürlich aber ist das nichts weniger als eine Strafe. Es sind einfach chirurgische Operationen, und solche involviren in Erewhon so wenig wie bei uns eine Herabwürdigung oder eine Einbuße in der öffentlichen Meinung. Verschiedene andere komische Folgen dieser Verkehrung der Anschauungen begegnen unserm Reisenden im Verlauf seines Aufenthaltes bei den Erewho- niten. Einmal verletzt er einer jungen Dame gegenüber auf das Aergste die Regeln des Anstandet indem er ihr erzählt, daß er sich schwer erkältet habe, und sie willigt erst ein, sich über diese Beleidigung nicht bei ihrem Papa zu beklagen, als der Tactlose ihr betheuert, daß ihm der Sittencodex des Landes vollkommen fremd sei. Ein ander Mal versucht ein Fräulein Mahaina, die offenbar an Magenkatarrh leidet, ihre Bekannten glauben zu machen, sie habe zu tief in die Flasche gesehen. Unfreundliche Leute aber sind hartherzig ge¬ nug, zu sagen, daß dies Täuschung, verlogne Ausrede sei und daß sie sich damit nur der billigen und gerechten Ahndung entziehen wolle, welche ihr verdorbener Magen zu gewärtigen habe. Körperliche Gebrechen werden von den Erewhoniten in dem Maße als weniger strafbar betrachtet, als sie ihren Grund in Dingen haben, die mit der Körperverfassung nicht zusammenhängen. Ruinirt z. B. Jemand seine Gesundheit durch zu viel Genuß von geistigen Getränken, so wird die körper¬ liche Krankheit als Theil oder Symptom der geistigen angesehen, die sie her¬ vorrief, und in Folge dessen nicht hoch angerechnet, wogegen solche Krank¬ heiten wie Fieber, Lungensucht, Nierenleiden, für die unserer Auffassung nach Niemand etwas kann, mit der äußersten Strenge behandelt werden und dem Patienten schwere Geldstrafen und langjährige Einsparung zuziehen. Früher, wo für keine Arzeneimittel gesorgt war, waren die auf Krankheit gesetzten Strafen geradezu barbarisch. Es kam damals vor, daß man Leute, die sich einen Schnupfen zugezogen hatten, zu lebenslänglicher Einsperrung verurtheilte, worüber wir uns indeß nicht allzusehr wundern wollen, da es bei uns um dieselbe Zeit vorkam, daß Leute, die über fünf Thaler Werths gestohlen hatten, dem Stricke des Henkers überantwortet wurden. Ein großer Gefängnißreformator war indeß aufgestanden, welcher das Publicum über¬ zeugte, daß Verbrechen wie Kopfschmerz, Herzleiden, Gicht u. A. sich heilen ließen. Er setzte glücklich eine theilweise Reform durch, kraft deren man alle Krankheiten in drei Classen theilte, insofern sie den Kopf, den Mittelkörper

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/384>, abgerufen am 25.08.2024.