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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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er den Namen angegeben hätte, vielleicht auf der Erdkarte finden würden, die
Kapitän Gullivers Inseln angiebt, hütete vor nicht langer Zeit ein Mann
Schafe. Am Gesichtskreis seines Weidegrundes erhob sich ein Gebirge, dessen
Kamm bis dahin noch kein Entdecker überstiegen. Die Flüsse, welche von dort
herab kamen, strömten durch enge Schluchten mit schroffen Wänden, und
hatten ihren Ursprung in riesigen Gletschern, über die kein Pfad führte.
Der Hirt aber war ein neugieriges Gemüth, und so hätte er gar zu gern
gewußt, wie es jenseit der Berge aussah. Ein Eingeborner, den er darüber
befragte, wußte nicht viel Ordentliches zu berichten und erschrak förmlich, als
jener den Wunsch äußerte, eine Entdeckungsreise über das wilde Gebirg zu
unternehmen. Endlich willigte er ein, wenigstens bis an den Fuß der Höhenkette
als Führer zu dienen. Dort entlief er dem Hirten, und dieser hatte sich
nun selbst weiter zu, helfen. Unerschrocken, wie er war, stieg er bergauf, unter
allerlei Mühen und Fährlichkeiten erklomm er die Wasserscheide. arbeitete er
sich über das Eis hinweg, und endlich sah er sich in dem ersehnten Jenseits
durch den Anblick eines sehr eigenthümlichen Landes für seine Beharrlichkeit
belohnt.

Dieses Land heißt Erewho n. Einige Kenntniß der englischen Sprache
und etwas Geschick in der Auflösung von Anagrammen wird in den Stand
setzen, die Bedeutung dieses Namens zu erkennen. Erewhon ist das umge¬
kehrte Uo^viiLi-o, und Mvliero heißt Nirgendwo, wird also eine Provinz des
Reiches Utopien sein, und zugleich an das Gebiet stoßen, welches die Geographie
des Volkshumors als die Verkehrte Welt bezeichnet.

Mit der Verkehrtheit der Natur allerdings steht es hier nicht so schlimm
wie anderswo. Gras und Laub sind nicht himmelblau, und der Himmel ist
nicht grasgrün. Das Siebengestirn ist nicht, wie im Liede von den unmöglichen
Dingen, am hohen Mittag zu sehen, gläserne Berge giebt es so wenig wie bei
uns, und wenn es regnet, so bleibt's nicht trocken. Erewhon ist nicht das
Land, wo der Krebs den Hasen jagte und der Ambos mit dem Mühlstein
über den Rhein schwamm. Weder geschieht es hier, daß man aus Haberstroh
klare Seide spinnt, noch sieht man, wie im Ditmarscher Lügenmärchen, bis¬
weilen gebratene Hühner fliegen, "die Bäuche nach dem Himmel gekehrt, den
Rücken nach der Hölle." Auch das scheint nicht vorzukommen, daß ein Frosch
eine glühende Pflugschaar gefressen hätte "zu Pfingsten auf dem Eise." End¬
lich hat der Verfasser von Erewhon auch nicht zu berichten, daß er hier be¬
obachtet, was jener amerikanische Schulmeister ein Phänomen nannte. "Eine
Kuh ist kein Phänomen, ein Zwetschenbaum auch nicht. Wenn aber die Kuh
auf den Baum steigt und sich mit dem Schwänze Zwetschen pflückt, so ist das
ein Phänomen."

Das Land unseres Entdeckers ist also nicht wesentlich von andern Ländern


er den Namen angegeben hätte, vielleicht auf der Erdkarte finden würden, die
Kapitän Gullivers Inseln angiebt, hütete vor nicht langer Zeit ein Mann
Schafe. Am Gesichtskreis seines Weidegrundes erhob sich ein Gebirge, dessen
Kamm bis dahin noch kein Entdecker überstiegen. Die Flüsse, welche von dort
herab kamen, strömten durch enge Schluchten mit schroffen Wänden, und
hatten ihren Ursprung in riesigen Gletschern, über die kein Pfad führte.
Der Hirt aber war ein neugieriges Gemüth, und so hätte er gar zu gern
gewußt, wie es jenseit der Berge aussah. Ein Eingeborner, den er darüber
befragte, wußte nicht viel Ordentliches zu berichten und erschrak förmlich, als
jener den Wunsch äußerte, eine Entdeckungsreise über das wilde Gebirg zu
unternehmen. Endlich willigte er ein, wenigstens bis an den Fuß der Höhenkette
als Führer zu dienen. Dort entlief er dem Hirten, und dieser hatte sich
nun selbst weiter zu, helfen. Unerschrocken, wie er war, stieg er bergauf, unter
allerlei Mühen und Fährlichkeiten erklomm er die Wasserscheide. arbeitete er
sich über das Eis hinweg, und endlich sah er sich in dem ersehnten Jenseits
durch den Anblick eines sehr eigenthümlichen Landes für seine Beharrlichkeit
belohnt.

Dieses Land heißt Erewho n. Einige Kenntniß der englischen Sprache
und etwas Geschick in der Auflösung von Anagrammen wird in den Stand
setzen, die Bedeutung dieses Namens zu erkennen. Erewhon ist das umge¬
kehrte Uo^viiLi-o, und Mvliero heißt Nirgendwo, wird also eine Provinz des
Reiches Utopien sein, und zugleich an das Gebiet stoßen, welches die Geographie
des Volkshumors als die Verkehrte Welt bezeichnet.

Mit der Verkehrtheit der Natur allerdings steht es hier nicht so schlimm
wie anderswo. Gras und Laub sind nicht himmelblau, und der Himmel ist
nicht grasgrün. Das Siebengestirn ist nicht, wie im Liede von den unmöglichen
Dingen, am hohen Mittag zu sehen, gläserne Berge giebt es so wenig wie bei
uns, und wenn es regnet, so bleibt's nicht trocken. Erewhon ist nicht das
Land, wo der Krebs den Hasen jagte und der Ambos mit dem Mühlstein
über den Rhein schwamm. Weder geschieht es hier, daß man aus Haberstroh
klare Seide spinnt, noch sieht man, wie im Ditmarscher Lügenmärchen, bis¬
weilen gebratene Hühner fliegen, „die Bäuche nach dem Himmel gekehrt, den
Rücken nach der Hölle." Auch das scheint nicht vorzukommen, daß ein Frosch
eine glühende Pflugschaar gefressen hätte „zu Pfingsten auf dem Eise." End¬
lich hat der Verfasser von Erewhon auch nicht zu berichten, daß er hier be¬
obachtet, was jener amerikanische Schulmeister ein Phänomen nannte. „Eine
Kuh ist kein Phänomen, ein Zwetschenbaum auch nicht. Wenn aber die Kuh
auf den Baum steigt und sich mit dem Schwänze Zwetschen pflückt, so ist das
ein Phänomen."

Das Land unseres Entdeckers ist also nicht wesentlich von andern Ländern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/381>, abgerufen am 22.07.2024.