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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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welche dieselbe bereits angenommen haben soll, kann durchaus nicht die Rede
sein; alle desfallsigen Angaben sind unrichtig und ins Gebiet der Fabel zu
verweisen, namentlich die der fraglichen englischen Broschüre, in welcher die
einzelnen wahren Thatsachen fast ohne Ausnahme übertrieben werden.

Die Luft des Orients scheint nicht geeignet, Geheimnisse zu bewahren;
oder, umgekehrt ausgedrückt, besonders dazu qualificirt, dieselben weiter zu
tragen; jene räthselhaften Gerüchte, welche so oft wirklichen Ereignissen als
ihre Schatten vorausgehen, treten wohl nirgends häusiger auf wie hier und
nirgends verbreitet sich schneller die Kunde von Dingen, die keineswegs für
die Oeffentlichkeit bestimmt waren. Wenn danach kaum jemals Geheimnisse
hier längere Zeit hindurch verborgen bleiben, so gilt dies insbesondere von
allen denen, die auf die Religionsverhältnisse Bezug haben. Denn bei dem
Nebeneinanderbestehen der verschiedensten, theilweise grell contrastirenden Re¬
ligionen beobachten die einzelnen Neligionsp'arteien einander mit einer Wach¬
samkeit, die schwer zu trügen ist. Von jenen wunderbaren Bekehrungen und
Uebertritten, welche die Flugschrift erzählt, ist, entgegen der Behauptung, daß
dieselben im ganzen Lande Aufsehen erregt hätten, auch in den bestunterrich¬
teten Kreisen von Beirut, das vorzugsweise gerade mit Damaskus in leb¬
hafter geistiger Wechselbeziehung steht, durchaus Nichts bekannt geworden, und
schon diese Thatsache ist uns ein sicherer Beweis dafür, daß jene Dinge auf
purer Erfindung beruhen.

Was wir über die Sache als positiv mittheilen können, beschränkt sich
auf Folgendes:

Kurz vor Weihnachten 1869 traf eine Anzahl gefangener Moslemin aus
Damaskus, etwa 15 Personen, in Beirut ein, und wurde in die hiesige Jn-
fanteriekaserne gebracht, wo man sie in strengster Haft hielt und ihnen na¬
mentlich nicht den geringsten Verkehr mit der Außenwelt gestattete. Wie
man hörte, waren es Leute, die von Raschid Pascha, dem Wali von Syrien,
zu lebenslänglicher Verbannung resp. Einschließung verurtheilt worden; als
Grund dafür wurde türkischerseits angegeben, daß sie der Rebellion gegen die
Regierung schuldig seien. Das Gerücht behauptete jedoch auf's Bestimmteste,
daß Letzteres unwahr und nur ein leerer Vorwand sei, um die Aufmerk¬
samkeit der fränkischen Consuln zu täuschen; die wirkliche Ursache der
Verbannung sei vielmehr keine andere, als daß jene Leute Neigung ge¬
habt und gezeigt hätten, Christen zu werden. Das Schicksal derselben be¬
schäftigte demgemäß die Bewohner von Beirut sehr lebhaft; besonders die
Christen Beiruth nahmen großes Interesse an ihnen. Sie bildeten damals
das Stadtgespräch. Nach einigen Tagen erschien ein türkischer Kriegsdampfer,
der sie ausnahm; er war zu diesem Behufe telegraphisch von Alexandrien
hierher berufen worden. Die Gefangenen sollten, wie es hieß, nach einer


welche dieselbe bereits angenommen haben soll, kann durchaus nicht die Rede
sein; alle desfallsigen Angaben sind unrichtig und ins Gebiet der Fabel zu
verweisen, namentlich die der fraglichen englischen Broschüre, in welcher die
einzelnen wahren Thatsachen fast ohne Ausnahme übertrieben werden.

Die Luft des Orients scheint nicht geeignet, Geheimnisse zu bewahren;
oder, umgekehrt ausgedrückt, besonders dazu qualificirt, dieselben weiter zu
tragen; jene räthselhaften Gerüchte, welche so oft wirklichen Ereignissen als
ihre Schatten vorausgehen, treten wohl nirgends häusiger auf wie hier und
nirgends verbreitet sich schneller die Kunde von Dingen, die keineswegs für
die Oeffentlichkeit bestimmt waren. Wenn danach kaum jemals Geheimnisse
hier längere Zeit hindurch verborgen bleiben, so gilt dies insbesondere von
allen denen, die auf die Religionsverhältnisse Bezug haben. Denn bei dem
Nebeneinanderbestehen der verschiedensten, theilweise grell contrastirenden Re¬
ligionen beobachten die einzelnen Neligionsp'arteien einander mit einer Wach¬
samkeit, die schwer zu trügen ist. Von jenen wunderbaren Bekehrungen und
Uebertritten, welche die Flugschrift erzählt, ist, entgegen der Behauptung, daß
dieselben im ganzen Lande Aufsehen erregt hätten, auch in den bestunterrich¬
teten Kreisen von Beirut, das vorzugsweise gerade mit Damaskus in leb¬
hafter geistiger Wechselbeziehung steht, durchaus Nichts bekannt geworden, und
schon diese Thatsache ist uns ein sicherer Beweis dafür, daß jene Dinge auf
purer Erfindung beruhen.

Was wir über die Sache als positiv mittheilen können, beschränkt sich
auf Folgendes:

Kurz vor Weihnachten 1869 traf eine Anzahl gefangener Moslemin aus
Damaskus, etwa 15 Personen, in Beirut ein, und wurde in die hiesige Jn-
fanteriekaserne gebracht, wo man sie in strengster Haft hielt und ihnen na¬
mentlich nicht den geringsten Verkehr mit der Außenwelt gestattete. Wie
man hörte, waren es Leute, die von Raschid Pascha, dem Wali von Syrien,
zu lebenslänglicher Verbannung resp. Einschließung verurtheilt worden; als
Grund dafür wurde türkischerseits angegeben, daß sie der Rebellion gegen die
Regierung schuldig seien. Das Gerücht behauptete jedoch auf's Bestimmteste,
daß Letzteres unwahr und nur ein leerer Vorwand sei, um die Aufmerk¬
samkeit der fränkischen Consuln zu täuschen; die wirkliche Ursache der
Verbannung sei vielmehr keine andere, als daß jene Leute Neigung ge¬
habt und gezeigt hätten, Christen zu werden. Das Schicksal derselben be¬
schäftigte demgemäß die Bewohner von Beirut sehr lebhaft; besonders die
Christen Beiruth nahmen großes Interesse an ihnen. Sie bildeten damals
das Stadtgespräch. Nach einigen Tagen erschien ein türkischer Kriegsdampfer,
der sie ausnahm; er war zu diesem Behufe telegraphisch von Alexandrien
hierher berufen worden. Die Gefangenen sollten, wie es hieß, nach einer


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[0354] welche dieselbe bereits angenommen haben soll, kann durchaus nicht die Rede sein; alle desfallsigen Angaben sind unrichtig und ins Gebiet der Fabel zu verweisen, namentlich die der fraglichen englischen Broschüre, in welcher die einzelnen wahren Thatsachen fast ohne Ausnahme übertrieben werden. Die Luft des Orients scheint nicht geeignet, Geheimnisse zu bewahren; oder, umgekehrt ausgedrückt, besonders dazu qualificirt, dieselben weiter zu tragen; jene räthselhaften Gerüchte, welche so oft wirklichen Ereignissen als ihre Schatten vorausgehen, treten wohl nirgends häusiger auf wie hier und nirgends verbreitet sich schneller die Kunde von Dingen, die keineswegs für die Oeffentlichkeit bestimmt waren. Wenn danach kaum jemals Geheimnisse hier längere Zeit hindurch verborgen bleiben, so gilt dies insbesondere von allen denen, die auf die Religionsverhältnisse Bezug haben. Denn bei dem Nebeneinanderbestehen der verschiedensten, theilweise grell contrastirenden Re¬ ligionen beobachten die einzelnen Neligionsp'arteien einander mit einer Wach¬ samkeit, die schwer zu trügen ist. Von jenen wunderbaren Bekehrungen und Uebertritten, welche die Flugschrift erzählt, ist, entgegen der Behauptung, daß dieselben im ganzen Lande Aufsehen erregt hätten, auch in den bestunterrich¬ teten Kreisen von Beirut, das vorzugsweise gerade mit Damaskus in leb¬ hafter geistiger Wechselbeziehung steht, durchaus Nichts bekannt geworden, und schon diese Thatsache ist uns ein sicherer Beweis dafür, daß jene Dinge auf purer Erfindung beruhen. Was wir über die Sache als positiv mittheilen können, beschränkt sich auf Folgendes: Kurz vor Weihnachten 1869 traf eine Anzahl gefangener Moslemin aus Damaskus, etwa 15 Personen, in Beirut ein, und wurde in die hiesige Jn- fanteriekaserne gebracht, wo man sie in strengster Haft hielt und ihnen na¬ mentlich nicht den geringsten Verkehr mit der Außenwelt gestattete. Wie man hörte, waren es Leute, die von Raschid Pascha, dem Wali von Syrien, zu lebenslänglicher Verbannung resp. Einschließung verurtheilt worden; als Grund dafür wurde türkischerseits angegeben, daß sie der Rebellion gegen die Regierung schuldig seien. Das Gerücht behauptete jedoch auf's Bestimmteste, daß Letzteres unwahr und nur ein leerer Vorwand sei, um die Aufmerk¬ samkeit der fränkischen Consuln zu täuschen; die wirkliche Ursache der Verbannung sei vielmehr keine andere, als daß jene Leute Neigung ge¬ habt und gezeigt hätten, Christen zu werden. Das Schicksal derselben be¬ schäftigte demgemäß die Bewohner von Beirut sehr lebhaft; besonders die Christen Beiruth nahmen großes Interesse an ihnen. Sie bildeten damals das Stadtgespräch. Nach einigen Tagen erschien ein türkischer Kriegsdampfer, der sie ausnahm; er war zu diesem Behufe telegraphisch von Alexandrien hierher berufen worden. Die Gefangenen sollten, wie es hieß, nach einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/354>, abgerufen am 22.07.2024.