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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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zu verscheuchen, sucht er sie zu erklären. Da diese Erklärungsversuche die er¬
forderliche Kritik bei ihm nicht vorfinden, verwirren sie ihn, rauben ihm die
Harmonie der Ideen unter einander, sowie die Uebereinstimmung der Ideen
mit der Wirklichkeit und machen ihn somit geisteskrank. Je weniger er von
seinen Wahnideen abgezogen wird, je ungestörter sie sich seiner bemächtigen,
desto schneller schwindet sein an sich beschränktes Widerstandsvermögen, desto
eher wird er von der Geisteskrankheit überwältigt. Von dieser Erwägung aus¬
gehend können wir uns wohl vorstellen, daß ein solcher Gefangener in der
Einzelhaft geisteskrank werden könne, während er in der gemeinsamen Haft
es vielleicht nicht geworden wäre; oder daß die Krankheit dort früher als hier
auftreten könne. Diese Ansicht wird auch durch statistische Ergebnisse gestützt.
So gibt z. B. Brunn*) an, daß in den dänischen Anstalten mit gemeinsamer
Haft nur 0-97 vCt. Geisteskranke vorkamen, während bei der Einzelhaft in
Vroedsloeselille (von 1863 bis 1867) dieser Procentsatz 2' 28 und in Christiania
(von 1861 bis 1864) 3 betrug. Für die Einzelhaft in Bruchsal berechnet
Glitsch**) für den Zeitraum von 1848 bis 1860 die Zahl der Geisteskranken
auf 3 ' 15 pCt. Dieser Procentsatz ist indeß ein außergewöhnlich großer und
dürfte nicht der Einzelhaft an sich beizumessen sein, denn diese hat in andern
Anstalten eine viel geringere Zahl von Geisteskrankheiten aufzuweisen. So
kam z. B. nach Ducvetiaux***) von 1850 bis 1860 in Holland in der Einzel¬
haft kein Fall von Geisteskrankheit vor, während die Gefängnisse mit gemein¬
samer Haft 69 Geisteskranke aufzuweisen hatten; in dem Zellengefängniß zu
Kopenhagen kam ein einziger Fall von Geisteskrankheit vor unter 599 Ge¬
fangenen, von denen viele vier oder mehr Jahre in der Einzelhaft zubrachten.
Wenn wir nun die Möglichkeit zugeben, daß für gewisse Gefangene die
Einzelhaft leichter als die gemeinsame Haft eine Veranlassung zu Geisteskrank¬
heiten werden könne, dürfen wir hieraus dock) nicht den Schluß ziehen, daß
die Einzelhaft vorzugsweise Geisteskrankheiten erzeuge. Vielmehr werden wir
aus jener Möglichkeit nur den Schluß ziehen, daß für gewisse Gefangene die
Einzelhaft wegen der Gefahr der Geisteserkrankung nicht zulässig sei, und daß
die der Einzelhaft unterworfenen Gefangenen sorgfältig beobachtet werden
müssen, damit eine etwa auftretende Geistesstörung rechtzeitig erkannt werde,
was in der Einzelhaft viel leichter ist, als in der Gemeinschastshaft. Bei
dieser Vorsichtsmaßregel können wir der Ansicht, daß die Einzelhaft wegen
der Gefahr der Geisteserkrankung zu verwerfen sei, um so weniger Gewicht
beilegen, als die statistischen Ergebnisse diese Ansicht nicht stützen.

Die Nothwendigkeit, die eben gedachte Vorsicht zu üben, gebietet der





") I.
I. o. S. 36L.
Vacr I- <-. S. 270.
Grenzboten II. 1872. 43

zu verscheuchen, sucht er sie zu erklären. Da diese Erklärungsversuche die er¬
forderliche Kritik bei ihm nicht vorfinden, verwirren sie ihn, rauben ihm die
Harmonie der Ideen unter einander, sowie die Uebereinstimmung der Ideen
mit der Wirklichkeit und machen ihn somit geisteskrank. Je weniger er von
seinen Wahnideen abgezogen wird, je ungestörter sie sich seiner bemächtigen,
desto schneller schwindet sein an sich beschränktes Widerstandsvermögen, desto
eher wird er von der Geisteskrankheit überwältigt. Von dieser Erwägung aus¬
gehend können wir uns wohl vorstellen, daß ein solcher Gefangener in der
Einzelhaft geisteskrank werden könne, während er in der gemeinsamen Haft
es vielleicht nicht geworden wäre; oder daß die Krankheit dort früher als hier
auftreten könne. Diese Ansicht wird auch durch statistische Ergebnisse gestützt.
So gibt z. B. Brunn*) an, daß in den dänischen Anstalten mit gemeinsamer
Haft nur 0-97 vCt. Geisteskranke vorkamen, während bei der Einzelhaft in
Vroedsloeselille (von 1863 bis 1867) dieser Procentsatz 2' 28 und in Christiania
(von 1861 bis 1864) 3 betrug. Für die Einzelhaft in Bruchsal berechnet
Glitsch**) für den Zeitraum von 1848 bis 1860 die Zahl der Geisteskranken
auf 3 ' 15 pCt. Dieser Procentsatz ist indeß ein außergewöhnlich großer und
dürfte nicht der Einzelhaft an sich beizumessen sein, denn diese hat in andern
Anstalten eine viel geringere Zahl von Geisteskrankheiten aufzuweisen. So
kam z. B. nach Ducvetiaux***) von 1850 bis 1860 in Holland in der Einzel¬
haft kein Fall von Geisteskrankheit vor, während die Gefängnisse mit gemein¬
samer Haft 69 Geisteskranke aufzuweisen hatten; in dem Zellengefängniß zu
Kopenhagen kam ein einziger Fall von Geisteskrankheit vor unter 599 Ge¬
fangenen, von denen viele vier oder mehr Jahre in der Einzelhaft zubrachten.
Wenn wir nun die Möglichkeit zugeben, daß für gewisse Gefangene die
Einzelhaft leichter als die gemeinsame Haft eine Veranlassung zu Geisteskrank¬
heiten werden könne, dürfen wir hieraus dock) nicht den Schluß ziehen, daß
die Einzelhaft vorzugsweise Geisteskrankheiten erzeuge. Vielmehr werden wir
aus jener Möglichkeit nur den Schluß ziehen, daß für gewisse Gefangene die
Einzelhaft wegen der Gefahr der Geisteserkrankung nicht zulässig sei, und daß
die der Einzelhaft unterworfenen Gefangenen sorgfältig beobachtet werden
müssen, damit eine etwa auftretende Geistesstörung rechtzeitig erkannt werde,
was in der Einzelhaft viel leichter ist, als in der Gemeinschastshaft. Bei
dieser Vorsichtsmaßregel können wir der Ansicht, daß die Einzelhaft wegen
der Gefahr der Geisteserkrankung zu verwerfen sei, um so weniger Gewicht
beilegen, als die statistischen Ergebnisse diese Ansicht nicht stützen.

Die Nothwendigkeit, die eben gedachte Vorsicht zu üben, gebietet der





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I. o. S. 36L.
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[0345] zu verscheuchen, sucht er sie zu erklären. Da diese Erklärungsversuche die er¬ forderliche Kritik bei ihm nicht vorfinden, verwirren sie ihn, rauben ihm die Harmonie der Ideen unter einander, sowie die Uebereinstimmung der Ideen mit der Wirklichkeit und machen ihn somit geisteskrank. Je weniger er von seinen Wahnideen abgezogen wird, je ungestörter sie sich seiner bemächtigen, desto schneller schwindet sein an sich beschränktes Widerstandsvermögen, desto eher wird er von der Geisteskrankheit überwältigt. Von dieser Erwägung aus¬ gehend können wir uns wohl vorstellen, daß ein solcher Gefangener in der Einzelhaft geisteskrank werden könne, während er in der gemeinsamen Haft es vielleicht nicht geworden wäre; oder daß die Krankheit dort früher als hier auftreten könne. Diese Ansicht wird auch durch statistische Ergebnisse gestützt. So gibt z. B. Brunn*) an, daß in den dänischen Anstalten mit gemeinsamer Haft nur 0-97 vCt. Geisteskranke vorkamen, während bei der Einzelhaft in Vroedsloeselille (von 1863 bis 1867) dieser Procentsatz 2' 28 und in Christiania (von 1861 bis 1864) 3 betrug. Für die Einzelhaft in Bruchsal berechnet Glitsch**) für den Zeitraum von 1848 bis 1860 die Zahl der Geisteskranken auf 3 ' 15 pCt. Dieser Procentsatz ist indeß ein außergewöhnlich großer und dürfte nicht der Einzelhaft an sich beizumessen sein, denn diese hat in andern Anstalten eine viel geringere Zahl von Geisteskrankheiten aufzuweisen. So kam z. B. nach Ducvetiaux***) von 1850 bis 1860 in Holland in der Einzel¬ haft kein Fall von Geisteskrankheit vor, während die Gefängnisse mit gemein¬ samer Haft 69 Geisteskranke aufzuweisen hatten; in dem Zellengefängniß zu Kopenhagen kam ein einziger Fall von Geisteskrankheit vor unter 599 Ge¬ fangenen, von denen viele vier oder mehr Jahre in der Einzelhaft zubrachten. Wenn wir nun die Möglichkeit zugeben, daß für gewisse Gefangene die Einzelhaft leichter als die gemeinsame Haft eine Veranlassung zu Geisteskrank¬ heiten werden könne, dürfen wir hieraus dock) nicht den Schluß ziehen, daß die Einzelhaft vorzugsweise Geisteskrankheiten erzeuge. Vielmehr werden wir aus jener Möglichkeit nur den Schluß ziehen, daß für gewisse Gefangene die Einzelhaft wegen der Gefahr der Geisteserkrankung nicht zulässig sei, und daß die der Einzelhaft unterworfenen Gefangenen sorgfältig beobachtet werden müssen, damit eine etwa auftretende Geistesstörung rechtzeitig erkannt werde, was in der Einzelhaft viel leichter ist, als in der Gemeinschastshaft. Bei dieser Vorsichtsmaßregel können wir der Ansicht, daß die Einzelhaft wegen der Gefahr der Geisteserkrankung zu verwerfen sei, um so weniger Gewicht beilegen, als die statistischen Ergebnisse diese Ansicht nicht stützen. Die Nothwendigkeit, die eben gedachte Vorsicht zu üben, gebietet der ") I. I. o. S. 36L. Vacr I- <-. S. 270. Grenzboten II. 1872. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/345>, abgerufen am 22.12.2024.