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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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leichter zu einer Geisteskrankheit dann führen, wenn die Einwirkung auf den Ver¬
brecher eine unzweckmäßige ist und in ihm den Glauben an die gänzliche
Verworfenheit oder die Furcht vor der Unmöglichkeit der Sühne erweckt.
Ferner gehört zu den disponirenden Momenten das qualvolle Denken an
seine Angehörigen, an die Schande, die er ihnen bereitet, unter Umständen
auch an die Noth, welcher er dieselben preisgegeben hat. Das verzweiflungs¬
volle Bewußtsein der Gefangenen, daß sie die ihnen unerträglich scheinende
Lage nicht ändern können, übt ebenfalls einen Einfluß auf die Entstehung
von Geisteskrankheiten aus. Dieser Einfluß verräth sich namentlich bei den¬
jenigen Gefangenen, denen urtheilsmäßig lange Strafen bevorstehen. So
trafen z, B unter 87 Fällen von Geisteserkrankung, welche im Jahre 1869
in den preußischen Strafanstalten vorkamen, 46 Fälle (also 82-87 pCt.) auf
solche Gefangene, deren urtheilsmäßige Strafdauer 6 Jahre überstieg. Diese
Erkrankungszahl ist aber um so bedeutungsvoller, als unter sämmtlichen
Strafgefangenen höchstens 10 pCt. eine längere als 3 jährige Strafe zu ver¬
büßen hatten/) Jenen Einfluß der urtheilsmäßigen langen Strafe werden
wir nicht unterschätzen, wenn wir erwägen, daß von den ihr unterworfenen
Gefangenen die bei weitem größere Zahl nicht etwa erst nach einer längeren
Haftdauer, sondern schon vor Ablauf der ersten 2 Haftjahre geisteskrank werden,
-- eine Thatsache, welche wohl geeignet ist, das Interesse der öffentlichen Gesund¬
heitspflege an der "vorläufigen Entlassung" der Gefangenen zu rechtfertigen und
zu steigern, denn jener Einfluß wird dann weniger zur Geltung kommen,
wenn der Gefangene hoffen kann der vorläufigen Entlassung für würdig er¬
achtet zu werden.

Es läßt sich nun allerdings nicht in Abrede stellen, daß manche von den eben
angedeuteten, zu Geisteskrankheiten disponirenden Momenten eine Abschwächung
erfahren durch die mit der gemeinsamen Haft verbundene Abwechselung und
Zerstreuung, aber auch dies ist nicht für alle Gefangenen zutreffend, manchem
ermöglicht es gerade die Einzelhaft, sich zu sammeln und denjenigen Halt in
sich zu gewinnen, welcher gegen Geisteskrankheit schützt. Diese vortheilhafte
Wirkung der Einzelhaft werden wir nur bei solchen Gefangenen erwarten
können, welche ein ausreichendes Geistesvermögen, einen höheren Grad von
Bildung besitzen, Geistesarme Gefangene, namentlich furchtsame, abergläubische,
sind in der Einzelhaft mehr als in der gemeinsamen Hast von Geisteskrank¬
heiten bedroht, insbesondere stellen sich bei einem solchen Gefangenen in der
Einzelhaft leicht Sinnestäuschungen ein, vorzugsweise in dem Gebiete des
durch begieriges Lauschen überreizten Gehörs. Unfähig die Sinnestäuschungen



') Statistik der zum Ressort des Ministeriums des Innern gehörenden Straf- und Ge- '
smigcn-Anstalten für das Jahr 1809. Berlin 1871, S. 21.

leichter zu einer Geisteskrankheit dann führen, wenn die Einwirkung auf den Ver¬
brecher eine unzweckmäßige ist und in ihm den Glauben an die gänzliche
Verworfenheit oder die Furcht vor der Unmöglichkeit der Sühne erweckt.
Ferner gehört zu den disponirenden Momenten das qualvolle Denken an
seine Angehörigen, an die Schande, die er ihnen bereitet, unter Umständen
auch an die Noth, welcher er dieselben preisgegeben hat. Das verzweiflungs¬
volle Bewußtsein der Gefangenen, daß sie die ihnen unerträglich scheinende
Lage nicht ändern können, übt ebenfalls einen Einfluß auf die Entstehung
von Geisteskrankheiten aus. Dieser Einfluß verräth sich namentlich bei den¬
jenigen Gefangenen, denen urtheilsmäßig lange Strafen bevorstehen. So
trafen z, B unter 87 Fällen von Geisteserkrankung, welche im Jahre 1869
in den preußischen Strafanstalten vorkamen, 46 Fälle (also 82-87 pCt.) auf
solche Gefangene, deren urtheilsmäßige Strafdauer 6 Jahre überstieg. Diese
Erkrankungszahl ist aber um so bedeutungsvoller, als unter sämmtlichen
Strafgefangenen höchstens 10 pCt. eine längere als 3 jährige Strafe zu ver¬
büßen hatten/) Jenen Einfluß der urtheilsmäßigen langen Strafe werden
wir nicht unterschätzen, wenn wir erwägen, daß von den ihr unterworfenen
Gefangenen die bei weitem größere Zahl nicht etwa erst nach einer längeren
Haftdauer, sondern schon vor Ablauf der ersten 2 Haftjahre geisteskrank werden,
— eine Thatsache, welche wohl geeignet ist, das Interesse der öffentlichen Gesund¬
heitspflege an der „vorläufigen Entlassung" der Gefangenen zu rechtfertigen und
zu steigern, denn jener Einfluß wird dann weniger zur Geltung kommen,
wenn der Gefangene hoffen kann der vorläufigen Entlassung für würdig er¬
achtet zu werden.

Es läßt sich nun allerdings nicht in Abrede stellen, daß manche von den eben
angedeuteten, zu Geisteskrankheiten disponirenden Momenten eine Abschwächung
erfahren durch die mit der gemeinsamen Haft verbundene Abwechselung und
Zerstreuung, aber auch dies ist nicht für alle Gefangenen zutreffend, manchem
ermöglicht es gerade die Einzelhaft, sich zu sammeln und denjenigen Halt in
sich zu gewinnen, welcher gegen Geisteskrankheit schützt. Diese vortheilhafte
Wirkung der Einzelhaft werden wir nur bei solchen Gefangenen erwarten
können, welche ein ausreichendes Geistesvermögen, einen höheren Grad von
Bildung besitzen, Geistesarme Gefangene, namentlich furchtsame, abergläubische,
sind in der Einzelhaft mehr als in der gemeinsamen Hast von Geisteskrank¬
heiten bedroht, insbesondere stellen sich bei einem solchen Gefangenen in der
Einzelhaft leicht Sinnestäuschungen ein, vorzugsweise in dem Gebiete des
durch begieriges Lauschen überreizten Gehörs. Unfähig die Sinnestäuschungen



') Statistik der zum Ressort des Ministeriums des Innern gehörenden Straf- und Ge- '
smigcn-Anstalten für das Jahr 1809. Berlin 1871, S. 21.
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[0344] leichter zu einer Geisteskrankheit dann führen, wenn die Einwirkung auf den Ver¬ brecher eine unzweckmäßige ist und in ihm den Glauben an die gänzliche Verworfenheit oder die Furcht vor der Unmöglichkeit der Sühne erweckt. Ferner gehört zu den disponirenden Momenten das qualvolle Denken an seine Angehörigen, an die Schande, die er ihnen bereitet, unter Umständen auch an die Noth, welcher er dieselben preisgegeben hat. Das verzweiflungs¬ volle Bewußtsein der Gefangenen, daß sie die ihnen unerträglich scheinende Lage nicht ändern können, übt ebenfalls einen Einfluß auf die Entstehung von Geisteskrankheiten aus. Dieser Einfluß verräth sich namentlich bei den¬ jenigen Gefangenen, denen urtheilsmäßig lange Strafen bevorstehen. So trafen z, B unter 87 Fällen von Geisteserkrankung, welche im Jahre 1869 in den preußischen Strafanstalten vorkamen, 46 Fälle (also 82-87 pCt.) auf solche Gefangene, deren urtheilsmäßige Strafdauer 6 Jahre überstieg. Diese Erkrankungszahl ist aber um so bedeutungsvoller, als unter sämmtlichen Strafgefangenen höchstens 10 pCt. eine längere als 3 jährige Strafe zu ver¬ büßen hatten/) Jenen Einfluß der urtheilsmäßigen langen Strafe werden wir nicht unterschätzen, wenn wir erwägen, daß von den ihr unterworfenen Gefangenen die bei weitem größere Zahl nicht etwa erst nach einer längeren Haftdauer, sondern schon vor Ablauf der ersten 2 Haftjahre geisteskrank werden, — eine Thatsache, welche wohl geeignet ist, das Interesse der öffentlichen Gesund¬ heitspflege an der „vorläufigen Entlassung" der Gefangenen zu rechtfertigen und zu steigern, denn jener Einfluß wird dann weniger zur Geltung kommen, wenn der Gefangene hoffen kann der vorläufigen Entlassung für würdig er¬ achtet zu werden. Es läßt sich nun allerdings nicht in Abrede stellen, daß manche von den eben angedeuteten, zu Geisteskrankheiten disponirenden Momenten eine Abschwächung erfahren durch die mit der gemeinsamen Haft verbundene Abwechselung und Zerstreuung, aber auch dies ist nicht für alle Gefangenen zutreffend, manchem ermöglicht es gerade die Einzelhaft, sich zu sammeln und denjenigen Halt in sich zu gewinnen, welcher gegen Geisteskrankheit schützt. Diese vortheilhafte Wirkung der Einzelhaft werden wir nur bei solchen Gefangenen erwarten können, welche ein ausreichendes Geistesvermögen, einen höheren Grad von Bildung besitzen, Geistesarme Gefangene, namentlich furchtsame, abergläubische, sind in der Einzelhaft mehr als in der gemeinsamen Hast von Geisteskrank¬ heiten bedroht, insbesondere stellen sich bei einem solchen Gefangenen in der Einzelhaft leicht Sinnestäuschungen ein, vorzugsweise in dem Gebiete des durch begieriges Lauschen überreizten Gehörs. Unfähig die Sinnestäuschungen ') Statistik der zum Ressort des Ministeriums des Innern gehörenden Straf- und Ge- ' smigcn-Anstalten für das Jahr 1809. Berlin 1871, S. 21.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/344>, abgerufen am 22.07.2024.