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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Natur ihre Züge abzulauschen, so vermögen sie doch nur ausnahmsweise, ein-
'seitliche, lebendige Charaktere zu gestalten, deren Handlungen als nothwen¬
diges Product ihres Denkens und Wollens erscheinen. Das Individuum tritt
zurück hinter dem Gattungstypus, dem Vertreter einer socialen Richtung.
Und diese des individuellen Gepräges entbehrenden typischen Gestalten wieder¬
holen sich unaufhörlich, in derselben Einförmigkeit wie die Motive und die
Conflicte, von denen man niemals weiß, ob sie tragischer oder komischer Na¬
tur sein sollen, was auch ganz dem Charakter des neuen Drama entspricht,
das sich Komödie nur deshalb nennt, weil es nicht Tragödie ist.*) Daß sich
aus diesen Typen durch die Energie der Darstellung auch geschlossene indivi¬
duelle Charaktere bilden lassen, soll nicht in Abrede gestellt werden, und na¬
mentlich hat es Dumas der Jüngere, den wir für den begabtesten Dichter der
neuen Schule halten möchten, wiederholt durch die That bewiesen. Auch
Feuillets cousequenter Egoist Montjoye ist ein lebendiges gut durchgeführtes
Charakterbild. Das Zusammenbrechen seines Glücks und seiner Kraft ist vor¬
trefflich psychologisch motivirt. Er fällt aus seiner Höhe, nicht weil er, wie
Rutenberg meint, mit etwas mehr Weltklugheit die tragische Consequenz
seines Princips, das im Grunde ganz rationell und den modernen Einrich¬
tungen entsprechend sei und nur einer geschickten praktischen Anwendung be¬
dürfte, hätte vermeiden können, sondern weil das Princip an sich falsch ist.
und weil in dem Kampf des individuellen Egoismus gegen die sittliche Welt¬
ordnung der Einzelne schließlich entweder äußerlich zu Grunde gehen oder in¬
nerlich zusammenbrechen und der Verkehrtheit seines Strebens sich bewußt
werden muß. Bei Montjoye tritt -- denn der Verlust der äußern glänzen¬
den Lebensstellung ist ja Folge eines freiwilligen Verzichtes -- der letztere
Fall ein, weil er von Natur besser als seine Grundsätze ist und durch das Er¬
wachen seiner lange verleugneten' menschlichen Gefühle gehindert wird, die
äußersten Consequenzen seines verwerflichen Systems zu ziehen. Er hatte bis
dahin in einem Verhältniß gelebt, welches zwar vor der Welt für eine recht¬
mäßige Ehe galt, in der That aber eine jeden Augenblick lösbare Verbindung
war, da sein eigensüchtiger Unabhängigkeitstrieb sich dagegen sträubte, sich
durch die Pflichten, die die Ehe ihm gegen Frau und Kinder auferlegt haben
würde, binden zu lassen: und obgleich er der Frau, die für seine Gattin galt,
ebenso aufrichtig zugethan war, wie seinen beiden Kindern, besonders der
Tochter, war er doch durch die dringendsten Bitten der von dem Bewußtsein
der UnWürdigkeit ihrer Stellung Gedruckten und in ihrem Gewissen Geäng-
stigten nicht zu einer nachträglichen Legalisirung des Verhältnisses zu bewegen



') Wir verweisen den Leser auf die treffliche Entwickelung der verschiedenen Gattungen
des französischen Drama bei Rutenberg S. !U ff.

Natur ihre Züge abzulauschen, so vermögen sie doch nur ausnahmsweise, ein-
'seitliche, lebendige Charaktere zu gestalten, deren Handlungen als nothwen¬
diges Product ihres Denkens und Wollens erscheinen. Das Individuum tritt
zurück hinter dem Gattungstypus, dem Vertreter einer socialen Richtung.
Und diese des individuellen Gepräges entbehrenden typischen Gestalten wieder¬
holen sich unaufhörlich, in derselben Einförmigkeit wie die Motive und die
Conflicte, von denen man niemals weiß, ob sie tragischer oder komischer Na¬
tur sein sollen, was auch ganz dem Charakter des neuen Drama entspricht,
das sich Komödie nur deshalb nennt, weil es nicht Tragödie ist.*) Daß sich
aus diesen Typen durch die Energie der Darstellung auch geschlossene indivi¬
duelle Charaktere bilden lassen, soll nicht in Abrede gestellt werden, und na¬
mentlich hat es Dumas der Jüngere, den wir für den begabtesten Dichter der
neuen Schule halten möchten, wiederholt durch die That bewiesen. Auch
Feuillets cousequenter Egoist Montjoye ist ein lebendiges gut durchgeführtes
Charakterbild. Das Zusammenbrechen seines Glücks und seiner Kraft ist vor¬
trefflich psychologisch motivirt. Er fällt aus seiner Höhe, nicht weil er, wie
Rutenberg meint, mit etwas mehr Weltklugheit die tragische Consequenz
seines Princips, das im Grunde ganz rationell und den modernen Einrich¬
tungen entsprechend sei und nur einer geschickten praktischen Anwendung be¬
dürfte, hätte vermeiden können, sondern weil das Princip an sich falsch ist.
und weil in dem Kampf des individuellen Egoismus gegen die sittliche Welt¬
ordnung der Einzelne schließlich entweder äußerlich zu Grunde gehen oder in¬
nerlich zusammenbrechen und der Verkehrtheit seines Strebens sich bewußt
werden muß. Bei Montjoye tritt — denn der Verlust der äußern glänzen¬
den Lebensstellung ist ja Folge eines freiwilligen Verzichtes — der letztere
Fall ein, weil er von Natur besser als seine Grundsätze ist und durch das Er¬
wachen seiner lange verleugneten' menschlichen Gefühle gehindert wird, die
äußersten Consequenzen seines verwerflichen Systems zu ziehen. Er hatte bis
dahin in einem Verhältniß gelebt, welches zwar vor der Welt für eine recht¬
mäßige Ehe galt, in der That aber eine jeden Augenblick lösbare Verbindung
war, da sein eigensüchtiger Unabhängigkeitstrieb sich dagegen sträubte, sich
durch die Pflichten, die die Ehe ihm gegen Frau und Kinder auferlegt haben
würde, binden zu lassen: und obgleich er der Frau, die für seine Gattin galt,
ebenso aufrichtig zugethan war, wie seinen beiden Kindern, besonders der
Tochter, war er doch durch die dringendsten Bitten der von dem Bewußtsein
der UnWürdigkeit ihrer Stellung Gedruckten und in ihrem Gewissen Geäng-
stigten nicht zu einer nachträglichen Legalisirung des Verhältnisses zu bewegen



') Wir verweisen den Leser auf die treffliche Entwickelung der verschiedenen Gattungen
des französischen Drama bei Rutenberg S. !U ff.
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[0336] Natur ihre Züge abzulauschen, so vermögen sie doch nur ausnahmsweise, ein- 'seitliche, lebendige Charaktere zu gestalten, deren Handlungen als nothwen¬ diges Product ihres Denkens und Wollens erscheinen. Das Individuum tritt zurück hinter dem Gattungstypus, dem Vertreter einer socialen Richtung. Und diese des individuellen Gepräges entbehrenden typischen Gestalten wieder¬ holen sich unaufhörlich, in derselben Einförmigkeit wie die Motive und die Conflicte, von denen man niemals weiß, ob sie tragischer oder komischer Na¬ tur sein sollen, was auch ganz dem Charakter des neuen Drama entspricht, das sich Komödie nur deshalb nennt, weil es nicht Tragödie ist.*) Daß sich aus diesen Typen durch die Energie der Darstellung auch geschlossene indivi¬ duelle Charaktere bilden lassen, soll nicht in Abrede gestellt werden, und na¬ mentlich hat es Dumas der Jüngere, den wir für den begabtesten Dichter der neuen Schule halten möchten, wiederholt durch die That bewiesen. Auch Feuillets cousequenter Egoist Montjoye ist ein lebendiges gut durchgeführtes Charakterbild. Das Zusammenbrechen seines Glücks und seiner Kraft ist vor¬ trefflich psychologisch motivirt. Er fällt aus seiner Höhe, nicht weil er, wie Rutenberg meint, mit etwas mehr Weltklugheit die tragische Consequenz seines Princips, das im Grunde ganz rationell und den modernen Einrich¬ tungen entsprechend sei und nur einer geschickten praktischen Anwendung be¬ dürfte, hätte vermeiden können, sondern weil das Princip an sich falsch ist. und weil in dem Kampf des individuellen Egoismus gegen die sittliche Welt¬ ordnung der Einzelne schließlich entweder äußerlich zu Grunde gehen oder in¬ nerlich zusammenbrechen und der Verkehrtheit seines Strebens sich bewußt werden muß. Bei Montjoye tritt — denn der Verlust der äußern glänzen¬ den Lebensstellung ist ja Folge eines freiwilligen Verzichtes — der letztere Fall ein, weil er von Natur besser als seine Grundsätze ist und durch das Er¬ wachen seiner lange verleugneten' menschlichen Gefühle gehindert wird, die äußersten Consequenzen seines verwerflichen Systems zu ziehen. Er hatte bis dahin in einem Verhältniß gelebt, welches zwar vor der Welt für eine recht¬ mäßige Ehe galt, in der That aber eine jeden Augenblick lösbare Verbindung war, da sein eigensüchtiger Unabhängigkeitstrieb sich dagegen sträubte, sich durch die Pflichten, die die Ehe ihm gegen Frau und Kinder auferlegt haben würde, binden zu lassen: und obgleich er der Frau, die für seine Gattin galt, ebenso aufrichtig zugethan war, wie seinen beiden Kindern, besonders der Tochter, war er doch durch die dringendsten Bitten der von dem Bewußtsein der UnWürdigkeit ihrer Stellung Gedruckten und in ihrem Gewissen Geäng- stigten nicht zu einer nachträglichen Legalisirung des Verhältnisses zu bewegen ') Wir verweisen den Leser auf die treffliche Entwickelung der verschiedenen Gattungen des französischen Drama bei Rutenberg S. !U ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/336>, abgerufen am 24.08.2024.